Nicht überrascht hat den 1955 nahe Moskau geborenen Autor, der heuer bei „Literatur im Nebel“ Stargast ist, die Brutalität, mit der dieser Krieg nun geführt wird. Diese Brutalität schockierte die zivilisierte Welt, sagt er. „Die Frage, woher eine solche Brutalität im Zeitalter von politischer Korrektheit, iPhones und Gentechnik kommt, stellen sich all jene, die die Geschichte Russlands nicht kennen“, sagt er. Denn „seit dem 16. Jahrhundert ist die russische Regierung ein Besatzer im eigenen Land. Iwan der Schreckliche, Peter der Große, Nikolaus I., Stalin – sie alle behandelten die Bevölkerung als entbehrliches Material, als Ton, aus dem sie ihre Vorstellungen von der Größe des Staates formten. Millionen von Russen starben als Folge dieser Politik.“
In Putins Weltsicht ist die Ukraine „eines der russischen Gebiete, die annektiert werden sollen. Und die Ukrainer, die mit dieser Idee nicht einverstanden sind, müssen einfach vernichtet oder nach Sibirien verbannt werden. Eine ziemlich mittelalterliche Logik! Die Massengräber in Butscha bestätigen dies.“
Es sei daher „nicht die russische Grausamkeit, die mich erstaunt (ich bin in dieser gewalttätigen Gesellschaft geboren und aufgewachsen), sondern die eher träge Reaktion der europäischen Staatsoberhäupter auf den eklatanten Völkermord an den Ukrainern.“ Die europäische Öffentlichkeit reagiere zwar „heftig“ auf die Invasion, die Regierungsvertreter aber „zurückhaltend. Mit einer solchen Reaktion können die Europäer mehrere Butschas und Mariupols erwarten.“ Der Westen müsse „der Ukraine helfen, so schnell wie möglich zu gewinnen“. Trotz der Sanktionen habe es der Westen jedoch „nicht eilig, der Ukraine militärische Hilfe zu leisten. Die europäischen Beamten haben Angst vor radikalen Schritten. Diese politischen Spiele riechen leider schlecht. Und die an diesen Spielen beteiligten Politiker werden früher oder später teuer dafür bezahlen“, sagt Sorokin. Das änderten auch Telefonate mit Putin nicht – im Gegenteil: „Ich habe den Eindruck, dass jeder Anruf der Kanzler oder Präsidenten der europäischen Staaten bei Putin diesen in seinem Glauben an die eigene Richtigkeit nur bestärkt.“
Seit Mitte der 1980er-Jahre ist Sorokin eine der wichtigsten und kritischsten Stimmen seines Landes – und eine der mutigsten. In seiner formal postmodern breit gestreuten Literatur – von der Parabel bis zum Science-Fiction – entstellt er Russland und die dortige Gesellschaft bis zur Kenntlichkeit. In seinem jüngsten Buch werden deformierte Miniversionen von Boris Johnson, Angela Merkel und Putin in einem Sanatorium gepflegt.
Schon sein erstes Buch musste er 1985 in Frankreich verlegen lassen. 1991 weigerten sich russische Drucker, eines seiner Bücher zu drucken – da er darin beschrieb, wie vier Helden der gerade kollabierten Sowjetunion zu kleinen Würfeln gepresst und in einen See von menschlichen Ausscheidungen gerollt werden. In „Der Tag des Opritschniks“ beschrieb er 2006, wie sich Russland in der nahen Zukunft dem Totalitarismus zuwendet. Sorokin sieht in dieser Hinsicht ein „neues Mittelalter“ herandräuen, dem er sich mehrfach gewidmet hat.
Und: „Wenn es Putin gelingt, in der Ukraine zu gewinnen“, sagt Sorokin nun, „wird dies der Anfang vom Ende des vereinten Europas sein. Das Gift des neuen Mittelalters wird Europa durchdringen und zerstören.“
Dass Putin sozusagen selbst ein gesundheitliches Gift in sich trage, also schwer krank sei, darüber will Sorokin im Gegensatz zu vielen westlichen Medien und Geheimdiensten nicht spekulieren: „Es lohnt sich nicht, Zeit und Aufmerksamkeit darauf zu verschwenden. Wir sollten lieber darüber nachdenken, wie wir diesen Diktator stoppen können.“
Seine Reise kurz vor Kriegsausbruch nach Westeuropa war keine geplante Emigration – und trotzdem muss Sorokin nun nachdenken, wie seine persönliche Zukunft aussieht. „Meine Frau und ich haben nicht den Wunsch, in Putins Russland zurückzukehren“, sagt er. „Die Wirtschaft des Landes bricht zusammen. Die militaristische Propaganda hat die gesamte russische Gesellschaft durchdrungen. Sogar Kinder im Kindergarten werden gezwungen, Uniformen zu tragen und mit dem Buchstaben Z zu marschieren.“
Aber er würde „sehr gerne in mein Heimatland, nach Russland, zurückkehren, wenn es von Putins neomilitaristischer Düsternis befreit und frei und demokratisch geworden ist. Ich hoffe, dass dies bald der Fall sein wird.“
Mehrere Generationen von russischen Schriftstellern, Komponisten und Künstlern haben „Erfahrungen mit der Emigration gemacht. Erinnern Sie sich an Vladimir Nabokov, Marina Zwetajewa, Iwan Bunin, Sergej Rachmaninow, Wassili Kandinsky, Jewgeni Zamjatin. Ich werde wieder von ihnen lernen müssen.“
Er selbst schreibe derzeit keine Literatur – „die Nachrichten von der ukrainischen Front erlauben es nicht, sich auf Prosa zu konzentrieren“, sagt er. Und: Russland beginne nun, „Bücher von Schriftstellern zu verbieten, die den Krieg angeprangert haben“.
Im Westen ist dieses Anprangern des Krieges hingegen kurzzeitig zur Voraussetzung dafür geworden, dass russische Künstler auftreten dürfen. Besonders im Fokus: Opernsängerin Anna Netrebko und Dirigent Valery Gergiev. Sollen diese auftreten dürfen? „Ich würde sehr gerne zu einem Netrebko-Konzert gehen – sie ist eine großartige Sängerin. Und sie hat den Krieg in der Ukraine verurteilt“, sagt Sorokin.
Und: „Ich würde nicht in ein Konzert von Putins Freund Gergiev gehen.“
Kommentare