Fulminante Schau zu Medardo Rosso: Ein doppelter Espresso für die Moderne
„Wenn Sie glauben, Impressionismus sei das künstlerische Gegenstück zu einem Milchkaffee, ist es Zeit, wieder den Espresso unter dem Schaum zu schmecken“, schrieb der Kritiker der New York Times in seiner Besprechung einer Ausstellung, die derzeit Hauptwerke der „großen Namen“ dieser Bewegung – Monet, Degas, Renoir – in die Nationalgalerie in Washington, D. C. bringt.
Wenngleich sich der Milchkaffee-Vergleich gut widerlegen lässt, ist eines nicht ganz unrichtig: Die „Klassische Moderne“ ist in den Museen dieser Welt zu einem Wohlfühlprogramm geworden. Das einst Revolutionäre dieser Kunst ist fest eingepackt in einen Wattebausch beliebter Postermotive und ansprechender Farben.
Aufwachen!
Das Wiener mumok weckt die schläfrige Partie nun also auf und serviert nicht Espresso, sondern: Medardo Rosso. Das ist kein Kaffee und auch kein Aperitif, sondern ein Bildhauer aus Turin, der im späten 19. Jahrhundert in Paris in Sichtweite des ungleich berühmteren Auguste Rodin und im Austausch mit Malern wie Edgar Degas und Amedeo Modigliani arbeitete.
Dass ihn abseits einer ergebenen Schar heute kaum noch jemand kennt, wird man nach Besuch dieser Ausstellung zurecht als Skandal bezeichnen. Denn der Schau gelingt es nicht nur, Rossos wegweisendes Werk umfassend darzustellen: In einer wunderbar durchdachten Inszenierung legt Kuratorin Heike Eipeldauer auch überzeugend dar, dass die wesentlichen Stränge der modernen und zeitgenössischen Skulptur – ja der modernen Kunst überhaupt – in dem Werk des eigenwilligen Italieners bereits angelegt waren.
Rosso brach in radikaler Weise mit der gängigen Vorstellung von Bildhauerei. Die Bronzeplastiken auf Straßen und Plätzen waren für ihn nicht mehr als „monumentale Briefbeschwerer“, wie er einmal schrieb. „Es gibt keine Malerei, es gibt keine Plastik, es gibt nur ein Ding, das lebt“ – dieses Motto ist an einem anderen Punkt der Schau zu lesen: Wie die Impressionisten wollte Rosso das Flüchtige und Wandelbare erfassen, sah Licht, Raum und Atmosphäre ebenso als formbare Bestandteile seiner Kunst wie den Gips oder das Wachs, aus dem er seine Objekte modellierte.
Gar nicht klassisch
Anders als Rodin, der etwa mit seiner Balzac-Statue und seinem „Höllentor“ noch an klassische Mythen und Monumente andockte, beschränkte sich Rosso dabei auf ein schmales Repertoire von rund 40 Motiven, die er zum größten Teil dem Alltag entnahm: „Das kranke Kind“, „Der Buchmacher“, „Die lachende Frau“.
Von 1906 bis zu seinem Tod 1928 tat er nichts anderes mehr, als diese Formen zu variieren und zu inszenieren. Der Künstler baute dazu eigens elektrisch beleuchtete Vitrinen und fotografierte seine Skulpturen aus verschiedenen Blickwinkeln. Die Fotos selbst beschnitt und manipulierte er, um noch mehr Wirkungsfacetten auszutesten.
Auf der Eingangsebene der mumok-Schau ist diese Praxis mit einigen Skulpturen und Vitrinen voller Originalbilder dargelegt, das meiste davon stammt aus dem Rosso-Museum in Barzio nahe Mailand. Hier zeigt sich auch die schlicht-schöne Ausstellungsgestaltung (Florian Pumhösl, Walter Kräutler): Sie orientiert sich einerseits an Medardos selbst gebauten Sockeln und Vitrinen und arbeitet andererseits mit neuartigen, halb transparenten Raumteilern, die manche Durch- und Einblicke nach Art einer Schwarz-Weiß-Fotografie verschleiern.
Tiefenbohrungen
Innerhalb dieser Leitplanken gelingt ein fulminanter Parcours, in dem sich Kunstgeschichte nicht mehr über Namen oder Stile vermittelt, sondern durch klug angesetzte Tiefenbohrungen.
Welche Formen etwa entstehen, wenn man dem Material seinen eigenen Willen lässt? Hier dockt Rossos Plastik, die sich stets im Status des Unfertigen und des „Es-geht-auch-anders“ befindet, an die „Anti-Form“-Kunst der 1960er an – exemplarisch vertreten mit einem Filzobjekt von Robert Morris oder einer Bleirolle, die gemäß einem Konzept von Richard Serra an der Wand lehnt.
Beim Bestreben, flüchtige Dinge einzufangen und die Trennung zwischen den Künsten und Medien zu überschreiten, sieht sich Rosso wiederum Klassikern wie Edgar Degas’ „Jeune Fille de Quatorze Ans“ gegenüber: Die Bronzeplastik einer Ballerina löste einst einen Skandal aus, weil der Künstler sie mit echtem Ballettröckchen und Haarschleife ausgestattet hatte. Bei der Gepflogenheit, seine Objekte in Käfigen und Vitrinen zu platzieren, interagiert Rosso mit Werken von Francis Bacon oder Alberto Giacometti.
In Wien kollidierte der Künstler mit der Bim
Den Dialog mit anderen suchte der Künstler übrigens schon zu Lebzeiten, wo er auch zweimal in Wien ausstellte und sich nach der Kollision mit einer Straßenbahn drei Monate erholen musste.
Die Schau geizt also nicht mit sogenannten „großen Namen“, doch noch weniger geizt sie mit großen Ideen. Während diese auf der jahrelangen Beschäftigung von mumok-Kuratorin Eipeldauer mit Rosso fußen, verdanken sich viele der prominenten Kunstwerke einer Kooperation mit dem Kunstmuseum Basel. Dort wird die Schau zu sehen sein, wenn die Kunstwelt sich 2025 zur „Art Basel“-Messe versammelt. Es ist zu erwarten, dass einigen Fachleuten in ähnlicher Weise die Schuppen von den Augen fallen werden wie dem Publikum in Wien – und dass Medardo Rossos Nachruhm davon profitiert. Am Markt wird sich Milchkaffee freilich weiterhin besser verkaufen.
Der Künstler
Medardo Rosso wurde 1858 in Turin geboren und starb 1928 in Mailand. Ab 1889 arbeitete er in Paris. 1903 und 1905 gab es auch viel beachtete Ausstellungen in Wien. 1964 kaufte die Vorgängerinstitution des mumok einige Werke an
Die Ausstellung
Bis zum 23. 2. 2025 versammelt das mumok 250 Werke Rossos – rund 50 Skulpturen, dazu Fotos und Zeichnungen. Werke von Edgar Degas, Alberto Giacometti, Amedeo Modigliani, Jasper Johns, Francis Bacon, Andy Warhol und vielen anderen verdeutlichen dazu den nachhaltigen Einfluss des Künstlers
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