Auroras Anlaß - Von Erich Hackl

Auroras Anlaß - Von Erich Hackl
Erich Hackl interpretiert behutsam die Tragik eines Mutter-und-Tochter-Paares, das seiner Zeit weit voraus war.

Erste Sätze, sie sind ein Mysterium der Literatur. Manche locken mit Magie wie das altbekannte "Es war einmal", andere geben eine metaphorische Ohrfeige, etwa wenn Kafkas Protagonist Gregor Samsa aufwacht und sich in einen Käfer verwandelt sieht.

Erich Hackl wirft mit seinem ersten Satz von " Auroras Anlaß" gleichsam eine Angel aus: "Eines Tages sah sich Aurora Rodríguez veranlasst, ihre Tochter zu töten." Und sofort hängen wir am Haken, wollen wissen wie und warum. Noch auf der ersten Seite der Erzählung wird die Tat ausgeführt – mit vier Schüssen aus nächster Nähe tötet Aurora ihre schlafende Tochter Hildegart. Im Rückblick über 13 Kapitel zeigt Hackl das Leben dieser Mutter und ihrer Tochter auf, erklärt uns stückweise "Auroras Anlaß" für die Tat.

Aurora Rodríguez wird 1890 im nordspanischen Ferrol geboren. Dort verlebt sie die ersten 24 Jahre ihres Lebens, dort erkennt sie schon früh zwei Dinge. Erstens: Elend und Armut der Massen sind begründet in mangelnder Bildung und kinderreichen Familien. Und zweitens: Frauen haben, auch in bürgerlichen, gebildeten Schichten, nichts zu sagen, sie sind "Menschen zweiter Klasse". Aurora versucht, gegen beides anzugehen. Sie engagiert sich für die Rechte der Frauen, sie plant sozialistische Utopien. Und sie startet, sobald sie volljährig wird, ein Experiment: Aurora lässt sich von einem ihr unbekannten Priester der Handelsmarine schwängern, zieht nach Madrid und bringt dort ihre Tochter Hildegart zur Welt. Sie legt sich selbst und dem Kind strengste Prinzipien auf, denn ihre Tochter soll "... die Menschheit oder einen Teil davon befreien". Hildegart soll frei von sexuellen Tabus und religiösen Vorurteilen aufwachsen – auch wenn dies bedeutet, sie von anderen Kindern fernzuhalten. Isolation und Lernen prägen Hildegarts Kindheit – der Erfolg bleibt nicht aus: Mit drei Jahren legt Auroras Tochter eine amtliche Prüfung im Maschinschreiben ab, mit zwölf schreibt sie erste journalistische Texte, mit 13 beginnt sie ein Jurastudium, mit 14 tritt sie den Sozialisten und der Gewerkschaft bei. Bis zu ihrem Tod mit 18 Jahren – im Jahr 1933 – wird Hildegart mehr als ein Dutzend Bücher über sexuelle Aufklärung und Hygiene, über soziales Elend und feministische Grund­lagen schreiben.

Auroras Anlaß - Von Erich Hackl
Ein Königreich für ein Bild!

"Nach einer wahren Begebenheit", heißt es oft im Kino. Und auch die Geschichte um Aurora und Hildegart ist eine, die das Leben geschrieben hat. Sämtliche Details der Erzählung entsprechen den Tatsachen, so unglaublich sie auch anmuten mögen. Erich Hackls Begründung für den – letztlich nie wirklich aufgeklärten – Mord ist dabei sehr plausibel und stimmig.

Der 1954 in Steyr geborene Autor verwendet in "Auroras Anlaß" einen distanzierten Stil, der mehr Chronik als Literatur zu sein scheint. Diese objektive Erzählhaltung, kombiniert mit kursiv gesetzten Zitaten aus Hildegarts Texten, führt zu einer atemberaubenden Authentizität. Hackl berichtet ohne Urteil und Moralansprüche, er legt Fakten dar und interpretiert behutsam. Die Tragik eines Mutter-und-Tochter-Paares, das seiner Zeit weit voraus war, wirkt deshalb unmittelbar. "Auroras Anlaß" wurde 1987 veröffentlicht, in einer Zeit, als sich kaum ein Mann an feministische Themen wagte.

Hackls Debüt folgten ähnlich intensive Texte – der Schriftsteller blieb dabei dem chronikalen Stil treu. Und "Auroras Anlaß" für die Tat? Das ist beim Lesen der Erzählung herauszufinden, die beispielhaft die Veränderung unserer Gesellschaft beschreibt.

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