"Atlantics“ von Mati Diop auf Netflix: Geisterhafte Wiederkehr
Als Mati Diop im Mai letzten Jahres über den roten Teppich von Cannes schritt, war sie die Erste: Die erste schwarze Regisseurin, deren Film im Hauptwettbewerb um die Goldene Palme gezeigt wurde. „Atlantique“, Diops Filmdebüt, gewann den großen Preis der Jury.
Mati Diop, Jahrgang 1982, ist Französin mit senegalesischen Wurzeln und stammt aus einer prominenten Familie. Ihr Onkel Djibril Diop Mambéty setzte 1973 einen Meilenstein im afrikanischen Kino: Sein Film „Touki Bouki“ erzählt von einem jungen Paar, das den Senegal verlassen möchte. Kurz darauf verließ Diops Vater, der Musiker Wasis Diop, seine Heimat und ging nach Paris, wo seine Tochter geboren wurde.
Das Thema Migration habe schon immer ihr Leben bestimmt, sagt Mati Diop, die mit ihrem Debütfilm auch die Viennale besuchte.
„Atlantique“ handelt von einer jungen urbanen Generation in Dakar und deren zerschmetterter Zukunft. Ein Bauarbeiter namens Souleiman, dessen Lohn vom korrupten Bauunternehmer nicht ausbezahlt wird, versucht, in einem Boot nach Spanien zu flüchten. Seine heimliche Freundin Ada ist einem reichen Mann versprochen, den sie nicht liebt. Die Flucht scheitert und die Männer kehren als eine Art Zombies nach Dakar zurück.
Zu dem fantastischen Soundtrack von Fatima Al Qadiri erzählt Mati Diop in traumtänzerischen Bildern von Toten, die zurückkehren und Rache fordern. „Atlantique“ spielt ausschließlich in Dakar und ist ein packendes Coming-of-Age-Drama von fremdartiger Schönheit.
KURIER: Ihr Film „Atlantique“ ist ungewöhnlich: Er erzählt nicht unmittelbar von dem Schicksal von Flüchtlingen, sondern von jenen, die zurückbleiben – in dem Fall in Dakar.
Mati Diop: Ich selbst wurde mein ganzes Leben mit dem Thema Emigration konfrontiert, weil ich halb Französin und halb Senegalesin bin. Als ich aus persönlichen und politischen Gründen in den Senegal zurückkehrte, um meine afrikanischen Wurzeln wieder zu entdecken, gab es dort gerade eine massive Abwanderung junger Menschen. Allein der Umstand, dass ich als Französin völlige Reisefreiheit hatte, während sich die anderen sofort in einer illegalen Situation befanden, war gravierend. Ebenso gravierend war der Unterschied zwischen den Bildern über Flüchtlinge, die ich aus den Massenmedien kannte und der Realität, die ich selbst vorfand.
Wollten Sie eine Art Gegenfilm zu jenen Bildern machen, die man üblicherweise aus den Medien zum Thema Flüchtlinge kennt?
Ja, denn ich stand Menschen nahe, die den Senegal gerade verlassen wollten. Mir wurde klar, dass ich von ihrer Situation völlig anders erzählen konnte als andere. Das gab meinem Film ein Gefühl von Dringlichkeit.
Die verunglückten jungen Männer kehren als eine Art Zombies nach Dakar zurück. Was hat Sie an diesem Motiv interessiert?
Für mich sind diese Untoten weniger Zombies als vielmehr Wiedergänger. Die zurückgelassenen Mädchen und auch ein Polizeidetektiv werden von diesen Wiedergängern in Besitz genommen. Ich finde, die Figur des Wiedergängers trifft auf die Figur des Flüchtlings gut zu, denn Migration handelt nicht nur vom Weggehen, sondern auch vom Zurückkommen. Außerdem konnte ich mir „Atlantique“ nur als Geisterfilm vorstellen, weil er von einer Generation handelt, die im Meer verloren ging.
Sie erzählen aus der Perspektive der zurückgelassenen Frauen. Wie kamen Sie zu der Entscheidung?
Irgendwann wurde mir klar, dass ich nur aus der Perspektive der Frauen erzählen konnte. Ich dachte nie daran, mit der Kamera jenen zu folgen, die flüchten, im Gegenteil: Ich wollte bei denen bleiben, die nicht weggehen. In meinem Kurzfilm „Atlantiques“ von 2009 erzähle ich von einem jungen Mädchen, das das Begräbnis seines Bruders besucht, der im Meer ertrunken ist. Sie sieht in die Kamera und weint. Die Figur der jungen Ada ist von genau diesem Mädchen inspiriert. Ich wollte von einer jungen Frau erzählen, die zwischen der Abreise ihres Geliebten und seiner Rückkehr als Geist erwachsen wird.
Ada heiratet einen reichen Mann, auf den ihre Freundinnen furchtbar neidisch sind – bis das Hochzeitsbett zu brennen beginnt und sich ein Polizist einschaltet.
Ja, das Heiraten kann großen sozialen Aufstieg bedeuten. Ada kommt aus sehr bescheidenen Verhältnissen. Der Mann, dem sie versprochen ist, ist nicht nur sehr reich, sondern auch ein Emigrant. Er hat in Europa Karriere gemacht und kehrt vermögend zurück. Jetzt gilt er als „wertvoller“, weil er es in Europa geschafft hat. Ich finde diese Beobachtung ganz besonders grausam: Dass Europa jemandem mehr „Wert“ verleihen kann. So gesehen weiß Ada ganz genau, worauf sie sich einlässt. Sie ist zwar in den mittellosen Souleiman verliebt, aber die reiche Heirat ist ihre Exit-Strategie – ähnlich, wie Souleimans Flucht nach Europa seine Strategie ist, um die kläglichen wirtschaftlichen Verhältnisse in Dakar hinter sich zu lassen. In beiden Fällen befindet sich Europa immer im Zentrum der Überlegungen und beeinflusst sehr wichtige Entscheidungen. Allein schon darin kann man die postkolonialen Nachwirkungen in Adas und Souleimans Leben erkennen.
Die jungen Männer arbeiten als Bauarbeiter an einem bizarren Hochhausturm. Existiert der wirklich?
Mein Film spielt in den Jahren zwischen 2000 und 2009, zu einer Zeit, als Präsident Abdoulaye Wade noch im Amt war (bis 2012, Anm.). Den Turm gibt es in der Form nicht, aber er symbolisiert korrupten Kapitalismus. Millionen fließen in derartige Projekte, während das Land an Arbeitslosigkeit leidet und eine ganze Generation an Jugendlichen im Meer ertrinkt. Der Turm ist das Symbol einer sozial und ökonomisch katastrophalen Situation.
INFO: „Atlantique“ ist unter dem englischen Titel „Atlantics“ auf Netflix abrufbar.
Filmfestivals online: Zähne ziehen in Oberhausen
Die Berlinale im Februar war das letzte große Filmfestival, das stattfand, dann brachte die Corona-Pandemie alles zum Erliegen. Derzeit wird fieberhaft nach anderen Möglichkeiten gesucht, Filme zu präsentieren.
Die Berlinale schließt sich nun mit rund 20 weiteren hochkarätigen Filmfestivals zusammen und bietet ein kostenloses Online-Filmfestival auf YouTube an. Unter anderem beteiligen sich die Filmfestspiele von Cannes, Venedig, Toronto und Tribeca.
Das Festival „We Are One: A Global Film Festival“ findet gratis vom 29. Mai bis 7. Juni online statt; die Veranstalter planen einen Mix aus alten und neuen Filmen.
Ebenfalls online gegangen ist das 66. Kurzfilmfestival von Oberhausen (bis 18. Mai). Mit einem Festivalpass um 9,99 Euro kann man auf kurzfilmtage.de rund 350 Filme in kuratierten Programmen sehen, die jeweils 48 Stunden freigeschalten sind.
Auch zwei österreichische Arbeiten werden im internationalen Wettbewerb gezeigt: Josef Dabernig lässt sich in seinem 12-minütigen, schmerzhaften Schwarz-Weiß-Film „Heavy Metal Detox“ seine Amalgam-Plomben entfernen; und Katrina Daschner zeigt in „Pomp“ eine aufregend glitzernde Hommage an die Variété-Kunst.
(sei)
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