Eifrige Festwochen-Besucher dürften am Donnerstag bei der Wien-Premiere von Milo Raus „Antigone im Amazonas“ ein Deja-vu-Gefühl gehabt haben. Denn im Vorjahr hatte Christiane Jatahy in „Depois do silêncio“ an João Pedro Teixeira, einen 1962 erschossenen Anführer der Bewegung für das Recht auf Land in Brasilien, erinnert:
Dessen angebliche Urenkelin, beseelt von der Idee, den Mord zu rächen, und zwei weitere Schauspielerinnen führten das Publikum in „ihr“ gemeinsames Dorf. Es gab schöne Landschaftsaufnahmen, tragische Geschichten, große Armut und Interviews mit alten Bewohnerinnen. In den projizierten Videos erkannte man Aduni Guedes, der auf der kargen Bühne als Musiker live für den passenden Sound sorgte.
Das Setting bei „Antigone in Amazonas“ ist ähnlich. Auf der kargen, mit Erde bedeckten Bühne des Burgtheaters berichten Sara De Bosschere und Arne De Tremerie vom NT Gent, das Milo Rau in den letzten fünf Jahren geleitet hat, zusammen mit dem Schauspieler Frederico Araujo und dem ebenfalls aus Brasilien gebürtigen Musiker Pablo Casella vom Entstehen der Produktion: Mit der Landlosenbewegung MST wurde am Ort des Geschehens das „Massaker von Eldorado do Carajás“ nachgestellt; 1996 hatte die Polizei 21 Aktivisten erschossen.
Tränen in den Augen
Die Erzählungen werden mit Videos unterfüttert: Man sieht das Reenactment und eine Sandkasten-Nachstellung mit Plastiksoldaten, zu Wort kommt eine alte Überlebende mit Tränen in den Augen, man sieht betörende wie bedrohte Amazonas-Landschaften und das Leben in einem Indigenen-Dorf. Die Vorsteherin sagt, dass sie als Aktivistin geboren worden sei – wie einst Antigone.
Denn Milo Rau brachte in alter Kolonialisten-Manier (aber auch augenzwinkernd) europäische Hochkultur in den Dschungel: Er verschnitt die Reise seines Teams mit der Tragödie von Sophokles. Beziehungsweise: Er nutzte das Drama, deren zentrale Dialoge er filmisch umsetzte, als Struktur für seine Auseinandersetzung mit der zum Himmel schreienden Ungerechtigkeit, dass dort als Ergebnis der Kolonialisierung 80 Prozent des Landes in Besitz von zehn Prozent der Menschen sind – und die Regenwälder weiterhin aus Profitgier abgeholzt werden.
Die Indigenen sind in erster Linie Staffage und Chor (er protestiert und singt). Gastauftritte haben u. a. die Aktivistin Kay Sara und der Autor Ailton Krenak, der als Seher Teiresias bei der Erde Fieber diagnostiziert. Sara De Bosschere verwandelt sich in Kreon, den neuen Herrscher von Theben. Er kam an die Macht, weil sein Neffe Polyneikes, der die Stadt angegriffen, und sein Neffe Eteokles, der diese verteidigt hatte, im Kampf gestorben sind. Kreon erlässt nun das Verbot, Polyneikes zu begraben. Doch Antigone, die Schwester der beiden (zumeist von Araujo gespielt), widersetzt sich. Das endet letal.
Raffinierte Verzahnung
Zur Ehrenrettung von Milo Rau muss erwähnt werden, dass er das Projekt bereits 2018 angedacht hatte – und im Februar 2020 umsetzen wollte. Doch dann brach die Pandemie aus. Daher kam es erst heuer im Frühjahr zu den Dreharbeiten.
Der designierte Festwochenintendant versteht sich zudem beeindruckend auf das Zusammenspiel von Video und Live-Schauspiel. Immer wieder kommt es (wie zuletzt bei der Uraufführung von „Everywoman“ im Rahmen der Salzburger Festspiele 2020) zu Dialogen zwischen den Figuren in den Filmsequenzen und jenen auf der Bühne. Die einen schauen, überlebensgroß, von der Leinwand herab – und direkt in die Augen der anderen. Diese Verzahnung, diese Überbrückung von Zeit und Raum, diese Interaktionen haben tatsächlich Raffinesse.
Nach zwei Stunden gab es Jubel und Standing Ovations. Allerdings für was? Für die Aktivisten? Deren Anliegen? Die Umsetzung? Egal. Es lebe die Revolution!
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