Anne Fontaine: "Kirche wurde von der Realität eingeholt"
Es war ein schwieriger Dreh, physisch wie auch mental: "Die polnische Provinz im tiefsten Winter und dann auch noch diese bedrückende Geschichte, das hat uns bis an unsere Grenzen gebracht", erzählt Anne Fontaine, die Regisseurin von "Agnus Dei – Die Unschuldigen" (derzeit im Kino) im KURIER-Interview.
Die 57-Jährige, die vor ihrer Karriere als Regisseurin eine akklamierte Schauspielerin war, berichtet beim Gespräch in Paris von anfänglichen Kommunikationsproblemen – "Ich sprach kein Wort Polnisch, die Polen teils kein Französisch und nur bruchstückhaft Englisch"; von ihren hoch motivierten Darstellern wie Agata Kulesza (Mutter Oberin) und Agata Buzek (Schwester Maria); vom Meistern anstrengender Szenen, in denen "wir geradezu symbiotisch zusammenwuchsen". Ein Wille zum Teamgeist, der wohl auch der Geschichte geschuldet war: Die Geschichte von 25 Nonnen in einem Benediktinerkloster im Norden Polens, die im Jahr 1945 fast schon am Ende des Zweiten Weltkriegs von Soldaten der Roten Armee brutal vergewaltigt und zum Teil geschwängert wurden. In ihrer Not wenden sie sich an die junge französische Ärztin Mathilde (Lou de Laage), die in einem nahen Ort im Lazarett Dienst versieht. Sie vertrauen sich ihr an, bitten sie ins Kloster, öffnen sich ihr körperlich und seelisch.
"Die Geschichte basiert auf wahren Ereignissen", so Anne Fontaine, die mit ihrem Film über Coco Chanel 2009 international berühmt wurde: "Die Ärztin, die 1945 tatsächlich vor Ort in Polen war, hat sie im Tagebuch aufgeschrieben. Ihr Neffe beschrieb dann in einem französischen Rot-Kreuz-Journal die Vorfälle in diesem Kloster." Sie habe sofort Empathie für die Frauen und große Faszination für dieses außergewöhnliche Bild von Müttern hinter Klostermauern verspürt: "Da wurde die Kirche, die sich ja sonst im Zwiespalt von Regeln und Realität verlässlich für die Regeln entscheidet, plötzlich von der Realität eingeholt."
Therapie der Öffnung
Diejenigen Kirchenoberen, die den Film gesehen hätten, haben positiv auf "diese unvermeidliche Therapie der Öffnung" reagiert. Fontaine: "Einer der Erzbischöfe im Vatikan meinte, man dürfe sich nicht der Realität verschließen. Es sei wichtig für die Kirche, sich auch mit unangenehmen Themen zu beschäftigen. Er und seine Mitbrüder hätten sich in der behutsamen Art, wie das Thema Gewalt und ihre Folgen behandelt wurde, wiedererkannt. Einige Priester und Nonnen, die ,Agnus Dei‘ sahen, weinten bei der Vorführung. Die Reaktionen waren also sehr authentisch und überwiegend positiv. Nur in Russland durfte der Film nicht gezeigt werden, weil der Roten Armee ja die Täterrolle zugeschrieben wird. Da fühlten sich einige auf den Schlips getreten."
Wollte sie auch die Verbindung von Glauben und Gewalt, die bis heute von großer Aktualität ist, aufzeigen? "Man kommt fast nicht drum herum. Die Geschichte der Gewalt gegen Frauen, besonders bei kriegerischen Auseinandersetzungen, ist eine lange. Vergewaltigung und Versklavung sind immer noch Mittel, um Menschen zu demütigen." Schließlich erzählt Fontaine noch von ihrer intensiven Zeit vor dem Dreh: Sie hatte sich für Monate in zwei französische Benediktinerklöster zurückgezogen, um das Leben und die Riten dort zu studieren: "Ich habe versucht, mich dort einzufügen wie eine Novizin. Ich habe gebetet, gefastet, bei der Haus- und Gartenarbeit geholfen und ständig mit den Frauen geredet. Über Gott und die Welt diskutiert. Ich habe von ihnen gelernt, dass der Glaube eine recht fragile Sache ist und sie auch von Zweifeln geplagt werden. Es war eine bereichernde, bewusstseinserweiternde und philosophische Erfahrung. Als ich ging, waren viele der Frauen Freundinnen geworden. Mir war klar, mein Film wird keine Karikatur mehr. Also, wenn Sie Inspiration suchen, gehen Sie in ein Kloster."
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