„Ich war ja früher in der Politik – in der Dissidentenbewegung in der Sowjetunion. Deswegen bin ich auch hier gelandet“, erzählt Anna Jermolaewa. „Dann habe ich als Künstlerin versucht, meine Möglichkeiten zu nutzen, an der Gesellschaft zu arbeiten. Derzeit habe ich das Gefühl, ich muss wieder zurück.“
Die aus St. Petersburg stammende Künstlerin, die seit 1989 in Österreich lebt, ist eben erst von einer Reise an die polnisch-ukrainische Grenze zurückgekehrt, wo sie Hilfsgüter ablieferte und Flüchtende mitnahm. Auch ihre Ausstellung, die heute, Dienstag, im Wiener MAK eröffnet, will sie in den Dienst der Ukraine-Hilfe stellen; spontan legte sie eine Fotografie in einer 500er Auflage auf, der Verkaufserlös (150 € pro Bild) wird gespendet.
Dass der Künstlerin mit ihrer Schau mehr mediale Aufmerksamkeit zuteilwird in „gewöhnlichen“ Zeiten, liegt am Thema des vorgestellten Projekts: Es geht um die Region um Tschernobyl, die am 24. Februar von russischen Truppen eingenommen worden war.
Safari in den Ruinen
2014 hatte Jermolaewa – sie war selbst lange mit einem Ukrainer verheiratet und hat mit diesem eine gemeinsame Tochter – die Region erstmals bereist. Was sie damals faszinierte, waren weniger die aufgelassenen Gebäude und Vergnügungsparks, sondern jene Zonen, in denen sich die Natur ihr Territorium wieder zurückholte. Hirsche, Fische und Przewalski-Wildpferde, die in den 1990ern ausgesetzt worden waren, fanden inmitten der Katastrophenregion ein Habitat.
Jermolaewa näherte sich der Szenerie als Safari-Touristin: „Die Bilder sind meine Trophäen“, sagt sie. Neben Fotos und Videos schuf sie Aquarelle, die auf vermutete Mutationen anspielen und Tiere mit verdoppelten Köpfen oder Gliedmaßen zeigten. 2015 wurde das Projekt erstmals auf der Biennale von Kiew präsentiert.
Bei einer weiteren Reise im August 2021 setzte Jermolaewa dann Drohnen und Wildkameras ein. „Ich wollte eigentlich die ökologischen Aspekte herausarbeiten“, sagt sie zu den nun im MAK gezeigten Resultaten. „Doch es ist kein guter Zeitpunkt, über die Tiere zu reden.“
Sie habe ebenso viele Freunde in der Ukraine wie in Russland, sagt die Künstlerin, die ihre Heimatstadt St. Petersburg auf absehbare Zeit nicht mehr besuchen kann – ebenso wenig wie die Metropole Odessa, die sie seit dem 16. Lebensjahr ihre Lieblingsstadt nennt.
Ihr Bekannter vor Ort in Tschernobyl, der ihr die Aufnahmen der Wildkameras geliefert hatte, sei mittlerweile selbst geflohen – sollte er jemals wieder an die Bilder herankommen, würden diese wohl Panzer zeigen.
Wo der Hirsch röhrt
Die Idylle, die Jermolaewa in ihren Safari-Bildern beschwört, war dabei immer schon brüchig. Motive wie röhrende Hirsche oder galoppierende Pferde gelten als Gipfel der Harmlosigkeit – erst das Wissen um den Reaktorunfall 1986 machte sie zu Messpunkten einer Katastrophe. Der Krieg potenziert diesen Kontrast noch einmal.
In Jermolaewas Werk kommt diese Aktivierung von Tieren und Pflanzen öfters vor – so band die Künstlerin Buketts aus Blumen, die als Symbole politischer Revolutionen dienten, oder erzählte anhand der Katzen, die in der St. Petersburger Eremitage leben, die Geschichte von Belagerung und Hungersnot.
„Grad das Martyrium, das Schauderschlimme /Geht seinen Gang nebenbei in einer gammligen Ecke, wo Hunde hinleben, wie Hunde halt leben/ Wo des Folterknechts Gaul sich am Baumstamm schubbert das schuldlose Hinterteil“, schrieb der Poet W. H. Auden mit Blick auf Pieter Bruegels Darstellung des „Bethlehemitischen Kindermords“, in der Brutalität mit unbedarftem Tierleben kollidiert. Einst wie jetzt lässt sich konstatieren: Im Krieg gibt es keine harmlosen Szenen.
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