Angesichts der Schlange liegen die Nerven blank

Cate Blanchett als Carol spielt eine Upper-Class-Ehefrau
Ewig lange Wartezeiten und ein bisher enttäuschender Hauptwettbewerb.

Erste Ermüdungserscheinungen zur Halbzeit von Cannes. Überall enorme Menschenschlangen, soweit das Auge reicht – vor Kinos, Computerplätzen und Toiletten. Der Kampf unter den Tausenden akkreditierten Journalisten um einen freien Platz im Kino ist besonders hart: Wer einen weißen Ausweis besitzt – ein Vertreter der New York Times beispielsweise –, gehört zur Königsklasse der schreibenden Zunft. Dann folgt die Farbe Rosa: Sehr gut, wer einen rosa Ausweis mit gelbem Punkt besitzt. Er kann sich in den tobenden Massen relativ privilegiert fortbewegen. Auch wer sich bei der Schlange "Rosa ohne Punkt" anstellen darf, liegt noch im guten Mittelfeld. Doch wer blau trägt, gehört schon zum Fußvolk: Er muss zähneknirschend zusehen, wie alle anderen an ihm vorbeiziehen, ehe sich für ihn die Tore öffnen. Ganz mau schließlich die Farbe Gelb.

Angesichts der Schlange liegen die Nerven blank
epa04753862 (L-R) Australian actress Cate Blanchett, US director Todd Haynes and US actress Rooney Mara arrive for the screening of 'Carol' during the 68th annual Cannes Film Festival, in Cannes, France, 17 May 2015. The movie is presented in the Official Competition of the festival which runs from 13 to 24 May. EPA/GUILLAUME HORCAJUELO
Welchem Journalisten welche Farbe zukommt, ist nicht immer nachzuvollziehen. Generell wird Tagespresse gegenüber Magazin-Journalisten bevorzugt, weil sie unter größerem Zeitdruck stehen. Doch oft ist nicht klar, wer warum in den Genuss bestimmter Privilegien kommt.

Manche müssen sich daher bis zu drei Stunden anstellen, um noch einen Platz zu ergattern. Und da wirft schnell mal einer die Nerven weg: Menschen brüllen einander gegenseitig an, weil es jemand wagt, einen Sitz für einen Kollegen freizuhalten, der noch nicht da ist. Das wird gar nicht gerne gesehen.

Umso enttäuschender dann, wenn der Wettbewerbsfilm, für den man sich endlos die Beine in den Bauch gestanden hat, doch nicht den in ihn gesetzten hohen Erwartungen entspricht. Und das passiert derzeit gerade ziemlich häufig, denn die heurige Filmauswahl enttäuscht immer wieder.

Cate Blanchett als Upper-Class-Ehefrau

Angesichts der Schlange liegen die Nerven blank
A combination picture shows the hands of director Todd Haynes (C), cast members Rooney Mara (L) and Cate Blanchett as they pose during a photocall for the film "Carol" in competition at the 68th Cannes Film Festival in Cannes, southern France, May 17, 2015. REUTERS/Regis Duvignau
Natürlich ist ein Melodram wie "Carol" von US-Regisseur Todd Haynes ("Dem Himmel so fern") von makelloser Schönheit und ein würdiger Teilnehmer im Bewerb um die Goldene Palme. Cate Blanchett als Carol spielt eine Upper-Class-Ehefrau im Nerz, die ihr lesbisches Begehren heimlich ausleben muss. Im Kaufhaus lernt sie eine junge Verkäuferin kennen (Rooney Mara, die frappant an Audrey Hepburn erinnert) und verliebt sich auf den ersten Blick. Haynes inszeniert die Liebe der beiden Frauen mit meisterlicher Kompetenz und atemberaubender Souveränität. Die 1950er und ihre Oberflächen fließen mit ihren gedeckten Farben zu feinsinnig komponierten Bildern zusammen. Doch so beeindruckend "Carol" in seiner Pracht auch sein mag, der Film ringt einem größte Bewunderung ab, nicht aber Begeisterung.
Angesichts der Schlange liegen die Nerven blank
"Mon roi" von Maiwenn (Frankreich)
 
Leider nur zu schwachen Ergebnissen führte bisher die endlos geführte Frauendebatte: Das Beziehungsdrama "Mon Roi" der Französin Maïwenn – mit einem anstrengenden Vincent Cassel als untreuem Ehemann – lief im Hauptbewerb, fällt aber bestenfalls unter Mittelmaß.

Die Wettbewerbsfilme von Cannes 2015

Kommentare