Schnelle Schlüsse
Es ist an der Zeit, kurz innezuhalten. Denn die Vorwürfe, wonach der Sexhunger des Frontmans durch ein System gefüttert wurde, das den Wunsch junger weiblicher Fans nach Nähe zum Stars ausnützte, sind von der Standard-Grenzüberschreitung der Marke Rammstein zu trennen und nicht zu verharmlosen. Die Frage, wo Konsens vorlag und wo nicht, ist teils schwierig zu beantworten – Bevormundungen nach dem Muster „sie wollten es doch auch“, die viele Poster den betroffenen Frauen nun in sozialen Medien überstülpen, disqualifizieren sich aber selbst.
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Systematisch
Entzündet hatte sich die Debatte an einem Tweet der Nordirin Shelby Lynn. Sie war nach einem Konzert in Vilnius am 22. Mai auf eine Backstage-Party eingeladen worden. Danach hatte sie Fotos von körperlichen Verletzungen gepostet und von Erinnerungslücken berichtet. Süddeutsche Zeitung und Welt am Sonntag setzten mit Berichten nach, die auf Basis mehrerer, teils eidesstattlich abgegebener Aussagen ein „System“ darstellten. Die bekannte YouTuberin Kayla Shyx veröffentlichte am Montag ein Video mit einem ähnlichen Erfahrungsbericht.
Die Frauen erzählen übereinstimmend, dass sie von einer „Casting-Agentin“ bei Konzerten in die vorderste Reihe geladen und auf Basis ihres Aussehens gezielt ausgewählt wurden. Sie sollten dem Sänger – teils in Konzertpausen, teils abseits von Aftershow-Partys, bei denen die Band mit Fans feierte, für Sex zur Verfügung stehen.
Von Alkohol und Drogen, die den Frauen in Getränke gemischt wurden, ist die Rede – sollte sich dieser Vorwurf erhärten, läge ein Straftatbestand vor. Ein konkreter Vorwurf der Vergewaltigung wurde bisher nicht erhoben.
Kein typischer #MeToo-Fall
Abseits der strafrechtlichen Dimension wirft der Fall viele Fragen auf. Anders als bei #MeToo-Erzählungen, in denen etwa eine Abhängigkeit zwischen einem Produzenten und einer Schauspielerin bestand, gab es eine solche Verkettung zwischen Lindemann und den Fans nicht.
Dennoch ist die Asymmetrie zwischen einem Star samt Entourage und einer Einzelperson offensichtlich: Jene Frau, die von einer traumatischen Erfahrung bei einem Konzert in Wien 2019 berichtete, gab in der SZ an, dass sie zunächst allen gesagt habe, dass „Till ganz nett war und alles gut war“. Sie habe sogar ein zweites Konzert samt Party besucht. Sie habe sich aber „selbst angelogen“, sagte sie. Verdient sie nun Häme – oder Unterstützung?
Die Band, die die Vorwürfe erst brüsk zurückgewiesen hatte, versuchte zuletzt, die Komplexität anzuerkennen: „Die Vorwürfe haben uns alle sehr getroffen und wir nehmen sie außerordentlich ernst“, hieß es darin. „Unseren Fans sagen wir: Es ist uns wichtig, dass ihr euch bei unseren Shows wohl und sicher fühlt – vor und hinter der Bühne.“
Tatsächlich sind Rockkonzerte verhältnismäßig sichere Orte, wo Fans aufeinander achten. Dass Rock die Tendenz zum Machismo nie ablegte, ist ebenso belegt. Dennoch berechtigt der Fall nicht zu einer Pauschalverurteilung einer Kultur, die auch Grenzüberschreitung zelebriert.
Bleibt die Frage der künstlerischen Freiheit, die Lindemann routinemäßig herausforderte.
In einem Gedicht mit dem Titel „Wenn du schläfst“ ging es etwa um Sex mit einer Frau, die mit Rohypnol ruhig gestellt worden war. Der deutsche Verlag Kiepenheuer & Witsch hatte das Gedicht bei Veröffentlichung noch verteidigt und Lindemann gar einen kritischen Geist bei der Überzeichnung von „Phänomenen der toxischen Männlichkeit“ attestiert.
Am Freitag beendete er seine Zusammenarbeit mit dem Sänger.
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