Blur-Konzerte in Wembley: "Die Kinder sagten, ,Halt die Klappe, Papa!'"
Das Jahr 2023 war für die britische Band Blur ein Jahr besonderer Produktivität. Bassist Alex James fasst es im KURIER-Interview so zusammen: „Ich werde sehr emotional, wenn ich darüber nachdenke. Weil es völlig unerwartet kam, nach acht Jahren Pause. Selbst als wir tatsächlich getrennt waren, hat es nicht so lange gedauert, bis wir wieder zusammen aufgetreten sind.“
James spricht das Jahr 2004 an, als die legendäre erste Band-Phase zu Ende ging. Anfang der 1990er-Jahre waren Blur die Helden des Britpop-Phänomens, ihre medial hochgespielte Rivalität mit Oasis war da nur ein Brandbeschleuniger. Seit „Park Life“ (1994) erreichte jedes Blur-Album im Vereinigten Königreich Platz 1. Nach einer ersten Reunion 2009 wurde es 2015, nach dem achten Studioalbum „The Magical Whip“ wieder ruhiger um die Band um Frontman Damon Albarn.
Ein Glücksspiel
„Aber dann ging alles so schnell“, sagt James. „Ich hätte nie damit gerechnet. Es war eine Art Glücksspiel, der Agent rief uns an und sagte: ,Schaut, in Wembley ist ein Slot verfügbar.' Und uns war klar: Das ist etwas, das wir noch nie gemacht hatten. Man weiß nie wirklich, ob noch jemand Interesse hat, bis du tatsächlich Tickets zum Verkauf anbietest.“
Das Londoner-Megastadion - mit einem Fassungsvermögen von 80.000 Zuschauern bei Konzerten - war auf Anhieb ausverkauft. Sofort wurde eine zweite Show angesetzt. „Und das nächste, das ich mitbekam, war, dass wir sogar eine neue Platte machen“, sagt James. „Und ich bin so froh, dass wir das gemacht haben.“
Über die Entstehungsgeschichte von „The Ballad of Darren“ erzählt James: „Wir wollten ja geheim gehalten, dass wir ein Album aufnehmen, was schwierig war, weil mich meine Kinder natürlich jeden Tag gefragt haben, wo ich hinfahre. Ich konnte sie ja auch nicht einfach anlügen. Und dann begannen sie, es ihren Freunden in der Schule zu erzählen.“
Seine Gedanken, als er frühmorgens zum ersten Mal vom Land ins Studio nach London fuhr: „Wenn du das 35 Jahre lang machst, dann hassen sich doch alle und man macht nur noch schlechte Platten. So ist es ja oft irgendwie (lacht). Aber von dem Moment an, als wir angefangen haben zu spielen, war alles anders.“
Tour und Album
Im Sommer 2023 ging die britische Band Blur nach acht Jahren Pause wieder auf Tournee. Mit ihrem neunten Studioalbum "The Ballad Of Darren" (Parlophone) im Gepäck gaben die Britpopper Konzerte auf der Insel, in Europa, Japan und Südamerika sowie beim Coachella-Festival in Kalifornien, wo sich Frontmann Damon Albarn irritiert über die aus seiner Sicht unterkühlte Stimmung äußerte. Ganz anders war es zuvor in ihrer Heimatstadt gelaufen.
Wembley und Live-Album
Die beiden gigantischen Auftritte vom 8. und 9. Juli 2023 im Londoner Wembley-Stadion, die als Höhepunkt der Tour galten, sind auf dem neuen Album "Live At Wembley Stadium" zusammengefasst. Mit insgesamt rund 150.000 Zuschauern waren es die größten Shows in der Karriere von Damon Albarn, Graham Coxon, Alex James und Dave Rowntree.
"Live At Wembley" (Parlophone) erscheint als Doppel-CD, Triple-Vinyl-LP und sogar auf Kassette. Im September soll obendrein ein Konzertfilm folgen, der in Großbritannien für kurze Zeit in die Kinos kommen wird. Ob das Konzerterlebnis auch hierzulande auf der großen Leinwand gezeigt wird, ist fraglich. Mit einer DVD und Streamingmöglichkeiten ist allerdings zu rechnen.
Magisch
„Wir vier sind so glücklich, all die Jahre zusammen zu spielen. Und ich denke, gerade weil wir es nicht mehr oft tun, ist es nie zu einer Plagerei geworden. Es ist einfach wirklich, wirklich magisch. Damon hat da alles hineingesteckt, die anderen auch. Es gibt bei einer Band wie Blur immer einen speziellen Sinn. Über eines waren wir uns immer einig: Das ist viel zu wertvoll, um es zu verraten. Daher pressen wir es nicht bis zum letzten aus. Irgendwie funktioniert es einfach und das war schon immer so. Daher war es in vielerlei Hinsicht einfach ein magisches Jahr.“
Magisch waren dann vor allem die beiden Wembley-Konzerte am 8. und am 9. Juli. Wembley, der Ort von "Live Aid" und unzähligen legendären Konzerten, gilt nicht nur britischen Musikern als fast heiliger Ort.
"Halt die Klappe, Papa!"
Entsprechend berichtet James auch vom ersten Soundcheck im Stadion. Dieser war erst möglich geworden, weil Drummer Dave Rountree Knieprobleme hatte und eine Warm-Up-Show in Frankreich ausgefallen war. „Es war ein bisschen wie im Film "Eine Nacht im Museum", keiner dort und dieses riesige völlig leere Stadion“, sagt James. „Ich meine, es ist riesig. Und ich erinnere mich, dass ich ins Auto gestiegen bin und dem Tourmanager eine SMS geschrieben habe: "We`re on our way to Wembley" Das ist das Lied, das Fußballfans singen, wenn sie zu einem Spiel fahren. Und ich fing an, das Lied zu singen. Die Kids saßen im Auto und sagten: ,Halt die Klappe, Papa!' Aber dann kommst du zum Stadion, und es ist wirklich ein Monument. Ich denke, es gibt keinen Engländer, der dort nicht diese Art von Nervenkitzel spürt. Als wir dort waren, haben die Kinder "We`re on our way to Wembley" gesungen. Und ich dachte, ich will ein bisschen Ruhe (lacht).“
Er erzählt weiter: "Als ich zum ersten Mal die Bühne hochstieg, dachte ich: ,Wir sind nur zu viert und der Schlagzeuger hat ein kaputtes Knie. Werden wir das durchzuziehen können?'“
Triumphal
Und wie sie es durchziehen konnten. Es wurden zwei triumphale Hochämter. 26 Songs spielten die gut gealterten Britpopper, darunter natürlich jede Mange Klassiker wie "Beetlebum", "Coffee & TV", "Song 2" und "Girls & Boys". Herausgeschnitten wurde lediglich "Lot 105", das Outro von "Park Life“. Vielleicht, weil Damon Albarn hier doch etwas zu windschief das Keyboard bediente?
Die emotionale Tiefe für die Band war in dem gigantischen Rund stets zu spüren und mitzuerleben: Der KURIER war am zweiten Abend vor Ort und hob auch die altersmäßige Mischung hervor: „Von den erwartbaren, mitgealterten "Generation Xlern" abgesehen, war fast alles dabei, von Pärchen im Pensionsalter bis zu jungen Girls and Boys.“
"Ein ganz neues Publikum"
„London war einfach bereit dafür“, sagt James. „Die Reaktionen waren unglaublich. Und ich konnte einfach nicht glauben, wie viele junge Leute da waren. Wir scheinen ein ganz neues Publikum gefunden zu haben. Und wenn ich mir den Konzertfilm ansehe: Damon Albarn wurde geboren, um verdammt noch mal auf dieser Bühne zu stehen. Er ist komplett in seinem Element. Graham wirft seine Gitarre herum, einfach ganz entspannt. Wir hatten einfach die Freude, ein Album aufgenommen zu haben, auf das wir wirklich stolz waren. Und ich erinnere mich, als ich zum Schlagzeuger gesagt habe: "Wie kann das verdammt noch mal so einfach sein?" Und er sagte: "Alles ist einfach, wenn man es 35 Jahre lang gemacht hat.“
Auch auf das Album "Blur: Live at Wembley Stadium" ist James stolz. Er sei froh, es aufgenommen zu haben, "weil die Soundsysteme jedes Jahr ein bisschen besser werden“. Im September folgt noch ein Konzertfilm namens „To the End“. Es ist der Titel einer - ziemlich ironischen - Blur-Ballade. Aber wie geht es mit der Band tatsächlich weiter?
„Es wäre natürlich schön gewesen, mehr zu machen“, sagt James, „aber normalerweise gibt es am Ende einer Tour immer mindestens eine Person in der Band, die sagt: Das war's, das mache ich nie wieder! Aber hier haben am Ende alle gesagten: ,Verdammt, es wäre gut, noch weiterzumachen.'
Wobei Albarn in Interviews wieder eine längere Auszeit ankündigte, weil das alles „zu viel“ für ihn gewesen sei.
Auch James dämpft die Erwartungen etwas: "Eigentlich ist es gut, es in so guter Erinnerung zu behalten. Nach einer Blur-Tour brauche ich einfach zwei verflixte Jahre, um mich zu erholen, es ist verrückt, so etwas zu machen. Wir führen auch alle sehr unterschiedliche Leben. Ich lebe auf einer Farm auf dem Land, mit fünf Kindern, mache Wein und Käse. Ich weiß nie, was als nächstes passieren wird. Auch wenn die Band zusammen ist, weiß ich das nie. Aber mein Gott, war das ein guter Sommer!“
Keine großen Bands mehr
Das Konzept Rockband sieht er am absteigenden Ast. „Große Acts sind heute größer als je zuvor. Wenn Adele oder Taylor Swift spielen, dann löst das kleine Erdbeben aus. Aber große Künstler von heute sind eher Singer-Songwriter mit Background-Musikern. Das kann man nicht mit einer kleinen verschworenen Gruppe von Leuten vergleichen, die seit verdammt vielen Jahren zusammen spielen und sich austoben können. Das gibt dir einfach einen echten Nervenkitzel. Heutzutage machen sie keine großen Bands mehr, es ist einfach zu teuer und unhandlich. Warum sollte sich eine Plattenfirma mit vier Diven herumschlagen, wenn es auch mit einer Diva geht? Ich denke, wir hatten einfach großes Glück, all die Jahre zusammen zu spielen. Und die Tatsache, dass wir das nicht oft tun, bedeutet, dass wir genauso begeistert sind wie alle anderen, noch da zu sein.“
Und wie ist das mit dem Käse? Produziert er mehr davon - oder doch noch mehr Musik?
„Mir wurde klar, dass ich wie ein moderner Mönch lebe“, sagt der Musiker. „So eine Farm ist wie ein Kloster. Du kannst dieselbe Art von geduldiger Hingabe wie beim Musizieren anwenden, wenn du Lebensmittel herstellst. Mönche haben immer morgens Käse gemacht und am Nachmittag gesungen. Es ist gut, beides zu machen. Wir alle beschäftigen uns immer noch mit Musik, in hohem Maße. Immer wenn Blur wieder zusammenkommt, werden wir alle überrascht.“
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