In denselben drei Jahrzehnten ist der westliche Hyper-Individualismus aufgeblüht.
Lacht. Ich finde es schwierig, hier eine Balance auszumachen. Ich unterstütze die Rechte des Individuums. Gleichzeitig muss ich sagen: Wir haben heutzutage 100 Millionen Flüchtlinge. Es gibt dramatischen Wandel in der Umwelt. Man sieht sehr deutlich, dass es Probleme mit Essen, Treibstoffen und der Versorgung geben wird.
Hat der Westen eine verdrehte Vorstellung von individueller Freiheit?
Es ist fragwürdig, selbst im Komfort zu leben, aber zu ignorieren, dass die Welt ein sehr gefährlicher Ort ist. Es gibt sehr viel Ungerechtigkeit und sehr viele Menschen haben Schwierigkeiten, überhaupt zu überleben.
Wir kümmern uns also nur darum, wie gut es uns geht, und ignorieren den Rest?
Wir können Freiheit jedenfalls nicht als selbstverständlich ansehen. Man muss zu Grundlegendem zurückkehren, etwa zu echter Redefreiheit. Zu echten individuellen Urteilen. Das ist sehr schwer, wenn man mit der gleichen Bildung und demselben Denken aufwächst.
Wie kann man da ein echtes Individuum sein?
Individualität bedeutet, einen Charakter zu finden und sich damit selbst zu definieren. Wenn ich die jungen Leute heute sehe: Es gibt weder Kritik, Selbstkritik oder den Willen, sich anzustrengen. Und da rede ich noch nicht einmal davon, ein Opfer zu bringen.
Freiheit ist ein Wert, den wir hochhalten, aber keiner strengt sich dafür an?
Es ist wie mit der Religion: Wie viele wunderschöne Kirchen gibt es in westlichen Städten, die den Wert von Religion demonstrieren? Man baute die schönsten Gebäude. Heute sind sie leer.
Global scheinen wir uns wieder in einem unerwarteten Konflikt der Werte zu bewegen. Russland wirft dem Westen kulturellen Imperialismus vor, China sperrt Menschen in großen Lagern weg und verbittet sich jede Einmischung. Im Westen diskutieren wir über die Rechte von Transgender-Personen. Glauben Sie, dass unsere Vorstellung von Menschenrechten auf alle Länder der Welt anwendbar sind?
Absolut nicht. Auch der westliche Freiheitsbegriff hat sich seit der Renaissance, der Aufklärung, der industriellen Revolution weiterentwickelt. Und der Fortschritt geht weiter. Im 19. Jahrhundert hat man in Europa Menschen aus Afrika in einen Zoo gesteckt. Können Sie sich so was vorstellen? Frauen hatten im 20. Jahrhundert noch nicht das Recht, zu wählen. All das hat eine Gesellschaft geschaffen, die über viel Toleranz verfügt, aber die wird herausgefordert. Und es kann sich alles sehr schnell zurückbewegen.
Also sind unsere Standards zu hoch?
Ich kritisiere immer wieder die Heuchelei. Man kann keine echte Konfrontation mehr haben, in der man mit rationalen Argumenten streitet. Stattdessen muss man an eine moralische Haltung irgendeiner Elite denken. Das halte ich für gefährlich für die westliche Gesellschaft. Es unterscheidet sich nicht von der Kulturrevolution Chinas: Wenn Sie eine Ideologie einfordern und die anderen auslöschen, wird die Gesellschaft faschistisch.
Was schlagen Sie vor?
Wir müssen die Menschlichkeit respektieren: Man ist mit dem Recht geboren, anders zu sein. Es mag sein, dass ich nicht mag, was Sie sagen, aber ich muss Ihr Recht schützen, es sagen zu können.
Ihre Ausstellung trägt die Unterzeile „Memento Mori“ („Gedenke des Todes“, Anm.). Warum tun wir uns so schwer mit dem Tod?
Wir müssten uns eingestehen, dass auch die Menschen nur eine Art Tier sind. Wir können uns nicht vorstellen, dass etwas außerhalb unserer Kontrolle ist. Bis es dann so weit ist: Eine Pandemie, ein Krieg in Europa ... Kunst, Literatur und Philosophie haben die Aufgabe, zu hinterfragen, warum wir hier sind. Was ist es wert, zu bewahren? Wir sind intelligente Wesen und müssen uns solche Fragen stellen.
Sie haben in Venedig einen riesigen schwarzen Luster und mehrere Glasskulpturen hergestellt. Ihre Arbeit hat stets großen Wert auf Handwerkstradition gelegt. Warum schätzen Sie Handwerk so hoch ein?
Ich habe in unserem autoritären Staat gelernt, dass man versucht hat, unsere Erinnerungen auszulöschen. „Nur indem wir alles zerstören, können wir eine neue Welt bauen.“ Mit einer traditionellen Methode zu arbeiten, bedeutet, sie zu verstehen und zu respektieren. Glas wird seit Hunderten von Jahren produziert. Für jede Revolution braucht man ein Vokabular, das eine gemeinsame Sprache formt. Heute haben wir im Westen „Cancel Culture“ und versuchen, die Vergangenheit zu ändern.
Ein Kampfbegriff. Was ist „Cancel Culture“ eigentlich?
Ich bin kein Gelehrter, aber meine Definition lautet so: Urteile zu fällen, die ausschließlich auf den heutigen Werten basieren, ohne sich dafür zu interessieren, was in der Vergangenheit passiert ist – und warum. So filtern wir unterschiedliche Ideen weg.
Sie waren in China unter Hausarrest gestellt und durften bis 2015 nicht verreisen. Seither sind sie außer Landes. Haben Sie noch die Staatsbürgerschaft?
Ich bin sehr stur und will meinen chinesischen Pass nicht aufgeben. Es gibt mir außerdem die Legitimation, China zu kritisieren.
Und doch ist China der einzige Platz, an den Sie nicht reisen können.
Das ist wahr. Das verleiht mir eigentlich eine interessante Position.
Wenn man Sie beobachtet, sieht man ständig Menschen, die um Selfies fragen. Das scheint Sie nicht zu stören.
Ich sehe es als eine Art Tagebuch. Und ich mache tatsächlich mit jeder Person Selfies. Manchmal schafft das Probleme. In Deutschland hat mich einmal eine Politikerin (AfD-Vorsitzende Alice Weidel, Anm.) um ein Selfie gefragt. Ich hatte keine Idee, was für eine Partei das ist. Als sie das Bild postete, gab es große Kritik an mir, weil sie fremdenfeindliche Politik macht. Meine Antwort war: „Come on: Ich mache doch mit jedem Selfies.“ Auch mit Leuten, deren politische Haltung ich nicht teile.
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