Ärzte-Sänger Farin Urlaub: "Das Problem ist die Gier in uns allen"
KURIER: Die Songs von „Dunkel“ sind tatsächlich alle viel düsterer und ernster. In wie weit wurden sie von der Pandemie beeinflusst?
Farin Urlaub: Sie sind nicht so von der Pandemie gefärbt, dass es absichtlich gewesen wäre oder uns selbst aufgefallen wäre. Es gab viele große Themen, die wir abgearbeitet haben, unter anderem das Thema toxische Männlichkeit, das gleich in drei Songs vorkommt. Das war aber nicht geplant. Und ich habe „Anastasia“ über einen selbstvergessenen Macho, der sich für super hält und gar nicht weiß, dass er ein Problem mit toxischer Männlichkeit hat, tatsächlich ein bisschen mit der Absicht geschrieben, auch musikalisch noch etwas Fröhlicheres auf das Album zu packen.
Ein anderes Stück über toxische Männlichkeit ist „Einschlag“, wo es um Femizid geht. Das ist in Österreich ein extrem großes Problem. Waren die Ereignisse bei uns der Auslöser dafür?
Nein, nicht der Auslöser. Der Text ist von Bela, und ich finde, er hat das fantastisch gelöst. Denn eigentlich ist das so ein ernstes Thema, dass man sich da kaum ran trauen kann. In der ersten, älteren Version beruhte der Text auf einem Mord in Deutschland, bei dem ein türkisches Mädchen namens Tugce sich schützend vor andere Mädchen gestellt hatte, die vor einer Disco Stress hatten. Sie hat sich dann mit den Jungs gestritten, einer von denen hat zugeschlagen und sie war tot. Bela fand das so schlimm und gleichzeitig so berührend, dass er diesen Text geschrieben hat. Später hat er ihn umgetextet, dass er allgemeingültiger ist. Denn es kann nicht sein, dass wir als Männer so stumpf und gefährlich für unsere Umwelt sind. Das ist ein ganz frustrierender Gedanke, das darf nicht wahr sein.
Der Song „Nachmittag“ dreht das um. Dabei wird der Mann von der Frau ermordet. Wie kamen Sie darauf?
Bela hat ja eine Ader für Western-Songs. Und ich hab so ein Lied geschrieben und wollte, dass er es singt. Ich hatte dafür diese erste Zeile: „Es war ein Nachmittag wie dieser, als mein Mädchen mich erschoss“. Ich fand das war so eine schöne Anfangszeile, weil man sofort in einer völlig kranken Story drinnen ist. Dann habe ich beschrieben, wie es passiert ist, aber nicht wie es dazu kam. Man erfährt nie ihre Beweggründe, es gibt keine Vorgeschichte und auch kein Nachspiel, außer dass er es schade findet, dass er sie nicht mehr küssen konnte.
„Tristesse“ ist musikalisch fröhlich, aber der Text beschreibt die Gedanken eines Menschen mit Depressionen. Ich nehme an, das sind nicht ihre eigenen Erfahrungen?
Nein, ich selbst habe keine Depressionen, ich bin überhaupt nicht der Typ dafür. Aber ich kenne Leute, die das haben, für die das sehr, sehr schlimm ist. Ich hatte dieses fröhliche Gitarrenriff, das an französische Pop-Musik der 60er- und 70er-Jahre angelehnt ist, die ich zwischendurch gerne höre. Und dann dachte ich, du kannst dazu aber nicht auch noch singen, dass das Leben super ist, da muss ein depressiver Text her. Mein lyrisches Ich denkt sich dann in diese Menschen hinein. Genauso war es bei „Anastasia“, wo ich mich gefragt habe: „Was denkt so ein Supermacho?“ Es ist beides das Gegenteil von mir, aber deshalb macht es total Spaß, dieses lyrische Ich zu benützen.
In „Doof“ heißt es, dass man Nazis als doof abzutun und sich nicht weiter damit beschäftigen soll. Glauben Sie wirklich, dass das ein gutes Rezept ist, damit umzugehen?
Nein, natürlich nicht. Und das ist auch Bela klar, der den Text geschrieben hat. Natürlich ist das unpassend. Aber auf der anderen Seite ist es zwischendurch auch eine schöne Abkürzung, einfach einmal zu sagen, „doof bleibt doof“, wenn wieder einmal jemand über „die Ausländer“ lästert. Donald Trump ist kein reiner Nazi und sein Fall ist noch viel komplizierter. Aber er ist auch durch die Presse, die sich ständig über ihn aufgeregt und auf die Titelseiten gehoben hat, so wichtig geworden. Und ich glaube, ein bisschen Schulterzucken hin und wieder würde diesen Querdenkern ganz gut tun. Dass sie uns nicht das Stöckchen hinhalten und wir springen direkt auf und sagen: „Das geht doch nicht, wie könnt ihr nur!“ Dadurch bekommen sie genau das, was sie wollen: Aufmerksamkeit, sie sind im Gespräch, sie fühlen sich wichtig, sie fühlen sich ernst genommen. Natürlich darf man das nicht falsch verstehen: Das ist kein Rezept gegen Faschismus, auf keinen Fall. Aber man kann auch nicht immer absolut ernste Texte schreiben. Rod hasst zum Beispiel den letzten Song, weil der komplett unironisch ist. Deshalb heißt der auch „Our Bassplayer Hates This Song“.
Was stört ihn daran?
Das ist ein ungebrochener Text, der für Demokratie sozusagen Werbung macht. Der Text erklärt, dass man verdammt nochmal dankbar sein sollte, in einer Demokratie zu leben. Dass man das nicht auf die leichte Schulter nehmen sollte, dass man nicht sagen sollte: "Politik interessiert mich nicht, ich bin Nichtwähler“. Rod meint, wir können nicht plötzlich so ein FDP-Textchen machen, so tun, als wären wir eine staatstragende Band. Die Musik fand er gut, aber er meinte, der Text geht gar nicht, das können wir nicht machen. Und Bela entgegnete: „Genau darum, weil wir das nicht können, müssen wir das machen.“ Aber natürlich geht die Aussage „Geht wählen!“ gar nicht. Ich habe das geschrieben, als ich gesehen habe, wie Leute beispielsweise in der Ukraine und in Weißrussland ihre Freiheit, ihre Gesundheit und ihr Leben riskieren, wenn sie auf die Straße gehen und demokratische Verhältnisse fordern. Wir hier haben dieses Geschenk und die Leute sagen, ist mir egal. Also mich regt das auf. Deshalb dachte ich, ich schreibe das peinlichste Lied der Welt.
Sehen Sie die Demokratie in Deutschland gefährdet?
Ja, eben durch dieses Desinteresse und dadurch, dass die Leute unsere vielen Freiheiten als garantiert und ganz normal empfinden. Sie sind aber ganz und gar nicht normal. Da muss man nur die Uiguren, die Leute in arabischen Diktaturen oder in Myanmar fragen. Und es kann mit der Demokratie auch sehr schnell vorbei sein. Da reicht ein Blick nach Polen oder Ungarn. Es kann sehr schnell gehen, dass eine Regierung, die zwar demokratisch gewählt ist, die Grundrechte und die Gewaltentrennung komplett aushöhlt, somit auch die Demokratie komplett aushöhlt und es dann plötzlich nur mehr eine Partei gibt. Und dann sagen wir: „Ups, wie ist das denn passiert?“
Glauben Sie, dass die Einschränkungen der Pandemie, bei denen auch ein paar Grundrechte ausgehöhlt wurden, eine Gefahr für die Demokratie darstellen?
Das ist natürlich ein gefährliches Thema. Aber diese Pandemie ist real, und so zu tun, als wäre nichts, und so weiterzumachen wie bisher, ist keine Option. Dass die Politik überhaupt nicht darauf vorbereitet war, kann man ihr sicherlich zum Vorwurf machen, weil Wissenschaftler schon seit Jahren warnen, dass solche Viren auf die sogenannte Zivilisation übergreifen können, wenn wir zum Beispiel die natürlichen Lebensräume von Wildtieren immer mehr einschränken. Man hätte sich also darauf vorbereiten können. Und es ist sicher auch so, dass die Politik da über weite Strecken kopflos agiert hat. Aber für mich persönlich war es nicht so eine große Einschränkung. Das Maskentragen kenne ich aus Japan, da hat man das aus Höflichkeit den anderen gegenüber während der Grippesaison schon immer gemacht. Und meine Grundrechte wurden auch nicht dadurch massiv eingeschränkt, dass ich zum Beispiel die Corona-Warn-App auf dem Handy habe. Wenn ich damit Menschenleben retten kann, mache ich das gerne. Und hinterher lösche ich sie. Ich habe nie gedacht: Oh, die wollen mich überwachen! Wo will man mich denn auch überwachen? Ich sitze ja eh nur zuhause - wie alle anderen.
Aber es öffnet natürlich Räume und Möglichkeiten zum Missbrauch dieser Daten.
Aber dafür leben wir in einer Demokratie! Dafür, dass das dann diskutiert werden kann, dass nicht wie in China 2000 Kameras auf deinem Weg zur Arbeit sind, damit der Staat wirklich immer ganz genau weiß, wer wo unterwegs ist, und dann noch sagt: „Was wir mit diesen Daten machen, geht dich gar nichts an!“ Wir haben diese Diskussion und der Chaos-Computer-Club mischt sich auch regelmäßig ein und erklärt: Diese Datenverarbeitung ist noch nicht anonymisiert genug. Und dann wird nachgebessert. Dass da alles perfekt gelaufen ist, will ich damit überhaupt nicht sagen. Ich bin kein Verteidiger der Bundespolitik, es gab auch Sachen, die mich extrem genervt haben. Aber es wird zumindest diskutiert, und das ist ein gesundes Zeichen.
Ein Thema das auch immer wieder in den Songs von „Dunkel“ auftaucht, ist Kritik am Kapitalismus. Sie sind ein wacher politischer Beobachter und extrem weit gereist, waren schon in so vielen Ländern fernab der westlichen Zivilisation. Beschäftigen Sie sich mit Utopien und anderen Systemen, die fairer sind und nicht so viel Ungleichheit produzieren?
Ja, das interessiert mich und ich habe mich auch mit Michail Bakunins Anarchie-Ansatz beschäftigt. Aber - und daran sieht man die Grenzen meiner angeblichen Belesenheit - aus meiner Sicht ist das Schlimme folgendes: All die Völker, die ich besucht habe, die am besten mit der Umwelt umgegangen sind, waren indigene Völker. Aber wenn man denen Zugang zu modernen, aber zerstörerischen Technologien gibt, werden die oft umgehend benutzt. Auch Völker, die angeblich mit der Natur im Einklang leben, fischen dann mit Dynamit, weil es eben sehr gut funktioniert. Die denken nicht alle so holistisch, wie man sich das immer erhofft. Auf der anderen Seite haben zum Beispiel die Aborigines in Australien viele tausend Jahre auf diesem unfassbar trockenen Kontinent gelebt und dabei das fragile Ökosystem nicht zerstört. Ich habe das Gefühl, dass Gesellschaften nur bis zu einer gewissen Größe mit der Natur im Einklang leben können. Aber diese riesige Überbevölkerung, die wir gerade haben, kann nicht im Einklang mit der Natur leben.
Auch wenn es den Kapitalismus nicht geben würde?
Der Kapitalismus hat viele Nachteile, aber auch den Vorteil, dass sich gute Ideen meistens durchsetzen. Zum Beispiel glaube ich, dass es sehr schnell gehen wird, dass kein Mensch mehr mit einem Verbrennungsmotor unterwegs sein muss. Ich habe zuhause nur Ökostrom, habe ein kleines Elektroauto und fahre klimaneutral. Das geht schon jetzt. Der Kapitalismus birgt in sich sehr viele Probleme, aber auch viele Lösungsansätze. Das Hauptproblem ist die grenzenlose Gier – nicht nur in den Bösen da oben, sondern in jedem einzelnen von uns. Wir wollen haben, haben und noch mehr haben. Es soll bequem sein und nicht viel kosten. Ah ja, und wenn es umweltfreundlich ist, wäre es auch noch gut. Aber es wird nicht ohne Opfer gehen.
Nächstes Jahr feiern Die Ärzte ihr 40-jähriges Jubiläum . . .
Oh je, erinnern Sie mich nicht daran. Die Zahl an sich wäre ja schon etwas zum Feiern, aber sie ist halt so hoch. Sie sagt: Wir sind alt. Na ja, zum Glück gab es uns dazwischen fünf Jahre nicht, also sind wir erst 35.
Werden Sie das dann nicht zum Beispiel mit einer Jubiläumstour feiern?
Wir haben das tatsächlich vergessen. Wir hätten damit den perfekten Tour-Titel gehabt: „ . . . Jahr 2022 . . . die, die überleben wollen“ war der Titel des Films, der im Original „Soylent Green“ hieß. Und Soilent Grün war die danach benannte Band, in der Bela und ich uns kennengelernt haben. Das hätte alles so gut gepasst, aber wir haben das komplett vergessen, weil wir so mit der „Buffalo Bill in Rom“-Tour vom Sommer 2022 beschäftigt waren. Aber wir werden sicher einmal auf das Jubiläum anstoßen - mit stillem Wasser...
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