Das kam in der 91 Jahre langen Geschichte der Academy Awards erst dreimal vor. Einmal, 1938, war eine Flutkatastrophe daran schuld, die beiden anderen Male Akte von Terrorismus: Die Ermordung von Martin Luther King 1968 und das Attentat auf Ronald Reagan 1981 führten zu Verzögerungen.
Diesmal liegt es an der Pandemie, die eine Änderung des Datums notwendig macht. Anstatt, wie geplant, am 28. Februar über die Bühne zu gehen, ist nach heutigem Zeitplan der 25. April anberaumt. Dementsprechend später gilt der 28. Februar als letzter Starttermin, der einen Film zur Nominierung berechtigt.
Tatsächlich aber ist der Kinostart eines Films im Jahr der Pandemie nicht zwingend. Wenn ein Film für sieben Tage in einem Kino in Los Angeles hätte gezeigt werden sollen, aufgrund von Kinoschließungen aber nur gestreamt werden konnte, ist er trotzdem für eine Nominierung berechtigt. Die Regelung gilt nur in diesem Ausnahmejahr; danach wird die große Leinwand in den Kinos wieder verpflichtend.
Kino-Kommitment
Unter normalen Umständen wäre der Dezember jener Zeitpunkt, an dem sich die Kinostarts der potenziellen Oscar-Filme gegenseitig auf die Zehen steigen würden. Doch aufgrund der wackeligen Situation wurden viele der geplanten großen Starttermine verschoben. Immerhin hält der Siegerfilm von Venedig, „Nomadland“ von Chloé Zhao – zumindest nach jetzigem Stand – an seinem geplanten Filmstart fest und beweist sein Kino-Kommitment: Ab 4. Dezember soll der Film eine Woche lang für seine Nominierungs-Qualifizierung in den Kinos (beziehungsweise, wenn nötig, im virtuellen Raum) laufen. Ab 19. Februar wäre dann der landesweite Kinostart geplant, um den Film zum Nominierungszeitpunkt bei den wählenden Mitgliedern der Academy präsent zu halten.
So sähe zumindest die klassische Vorgangsweise eines Studios aus, mithilfe der Kinos größtmögliche Aufmerksamkeit für einen Film zu generieren.
Bisher steht ein großer Film wie „Nomadland“ mit seinem geplanten Start im Dezember relativ alleine da. Doch auch ein weiterer Oscar-Favorit, „News of the World“ mit Tom Hanks, beweist Solidarität mit dem Kino – zumindest in Amerika: Dort soll Paul Greengrass’ Western am 25. Dezember in den Kinos starten, ehe er 17 Tage später in den Streamingdienst weiter gereicht wird. Diese Abmachung gilt allerdings nur in den USA; alle anderen Ländern – also wir – bekommen „News of the World“ nur auf Netflix zu sehen.
Netflix in Startposition
Apropos Netflix: Für den Streamer könnte das Oscar-Jahr 2021 rekordbrechende Erfolgsgeschichte schreiben.
Bis jetzt war es Netflix nicht vergönnt, in der Kategorie Bester Film einen Oscar zu ergattern; das gelang ihm weder mit „Roma“, noch mit Martin Scorseses „The Irishman“. Doch 2021 könnte sich das Blatt wenden. Netflix hat starke Oscar-Bewerber im Köcher, die in den Insider-Rankings hoch im Kurs stehen. Dazu gehört David Finchers „Mank“ (ab. 4. Dezember abrufbar), ein über zweistündiges Monumentalwerk in schwarz-weiß, in dem Gary Oldman den versoffenen Herman Mankiewicz, Drehbuchautor von Orson Welles’ „Citizen Kane“ spielt.
Chancen für die Kategorie Bester Film rechnet sich auch Aaron Sorkin für sein Dialogfeuerwerk aus den späten 60er Jahren, das Gerichtssaaldrama „The Trial of the Chicago 7“ mit Sacha Baron Cohen aus. Ebenfalls möglich wäre eine Nominierung von Spike Lees Vietnam-Veteranen-Groteske „Da 5 Bloods“ oder George C. Wolfes „Ma Rainey’s Black Bottom“ mit Viola Davis als „Königin des Blues“ (ab 18. Dezember abrufbar). In den verbleibenden Monaten bis zum Einreichschluss könnten sich noch weitere Favoriten für Netflix herauskristallisieren, besonders auch in den Kategorien jenseits von Bester Film.
Der mutig-einsame Blockbuster des Jahres, der sich in die Kinos getraute und dort enttäuschend weniger Publikum fand als erwartet, war Christopher Nolans Zeitschleifen-Thriller „Tenet“: Er wird wahrscheinlich in erster Linie in technischen Kategorien wie Beste Kamera reüssieren; als Bester Film bietet er sich nicht unbedingt an.
Dass alle dies Unsicherheiten in der Filmbranche auch für positive Überraschungen sorgen können, bewies bereits das Filmfestival in Venedig: Dort gingen anstelle der üblichen (männlichen) Fixstarter viele Frauen beziehungsweise „Außenseiter“ an den Start und sorgten für ein spannendes Programm.
Auch im Oscar-Rennen könnten ungewöhnliche Zeiten für ungewöhnliche Nominierungen sorgen; die Bandbreite an potenziellen Nominierungen ist jedenfalls groß: Regina Kings Auseinandersetzung zwischen Cassius Clay und Malcolm X in „One Night in Miami“ ist ebenso im Spiel wie Kelly Reichardts inniger Western „First Cow“, Kornél Mundruczós Vanessa-Kirby-Drama „Pieces of a Woman“ (übrigens auch auf Netflix) oder Pixars „Soul“.
Auslandsoscar
Und schon wieder „Apropos Netflix“: Die österreichische Wahl für die Nominierung zum Auslandsoscar fiel auf Ulrike Koflers Drama „Was wir wollten“ mit Elyas M’Barek und Lavinia Wilson. Die beiden spielen ein Paar, das an einem unerfüllten Kinderwunsch leidet und Urlaub auf Sardinien macht. Ausgerechnet in der Nebenwohnung tummelt sich eine Tiroler Kleinfamilie, die all das zu haben scheint, was den Nachbarn fehlt. Auf Netflix kann man Koflers Film bereits sehen, nur nicht in Österreich: Hier ist „Was wir wollten“ geogeblockt und wartet noch auf seine Kinoauswertung.
Die Deutschen schicken das Aktivismus-Drama „Und morgen die ganze Welt“ von Julia von Heinz ins Rennen um den Auslandsoscar. Das wäre nicht zuletzt für zwei österreichische Schauspieler eine große Sache, denn sowohl Andreas Lust als auch Noah Savreeda spielen darin signifikante Rollen.
Kommentare