"ÜberLeben": Der Lockruf des Honigbrots
Ich habe jetzt seit 43 Jahren ununterbrochen Hunger, und das kam so.
Im Jahr 1978 sagte mir ein Spielkamerad, ich sei zu dick. Wir hatten Fußball gespielt und saßen auf einer Mauer hinterm Haus, als er zu lachen begann, auf meinen Bauch zeigte und meinte: „Na, was hast denn du zu Mittag gegessen?“
Bis dahin hatte ich keine Vorstellung von gedanklichen Konzepten wie „Schlankheit“ oder „Übergewicht“. Menschen sahen aus, wie sie halt aussahen, es hatte keine Bedeutung. Meine Großmutter väterlicherseits war dick, meine Großmutter mütterlicherseits war dünn, mir war es egal, ich mochte beide.
Dann wurde ich zehn Jahre alt, folgte dem Lockruf des Honigbrots und nahm zu. Plötzlich sagte mir die dicke Oma, ich würde zu rund, und die dünne Oma meinte, ich hätte zu fette Beine. Mein Vater, ein ehemaliger Leichtathlet, versuchte auf einmal, mich zu gemeinsamen Joggingrunden zu überreden, was mir sehr merkwürdig vorkam.
Von all dem verunsichert, begann ich plötzlich, mich jeden Tag genau im Spiegel zu betrachten und aufzupassen, was ich zu mir nahm.
Und das blieb bis heute so. Ich habe das Gefühl, mich seit 1978 nie wieder satt gegessen zu haben. Mein Gewicht schwankt, bei 1,87 Meter Größe hatte ich schon 66 Kilo, aber auch schon 99. Mit 17 nahm ich in einem Monat zehn Kilo ab, weil mich eine Mitschülerin verspottet hatte. Nachher lobten mich die Lehrer, weil ich so schlank sei.
Meine Eltern sind beide 74 Jahre alt und um kein Gramm schwerer als 1978. Und nach wie vor gibt es bei uns die Bauch-Kritik: Das erste, was mein Vater zu mir sagt, wenn er mich sieht, bezieht sich auf meine Figur. Ohne es zu merken, greife ich mir 20 Mal am Tag auf den Bauch, um dessen Größe zu kontrollieren.
Und manchmal wünsche ich mir, es wäre wieder 1977, als ich noch dachte, Äußerlichkeiten seien völlig wurscht.
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