Paaradox: Das erste Mal
Sie
Ja, Bücher besitze ich sehr viele und lese sie auch. Nicht immer bis zum Schluss, oft nur quer, das gebe ich zu. Vor allem aber das Ende zuerst, speziell bei sehr aufregenden Krimis. Unerträgliche Spannung macht mich kribbelig. Was der Mann gegenüber überhaupt nicht nachvollziehen kann – es macht ihn narrisch. Und so versteckt er meine Lektüre manchmal, um mir das Versprechen abzuringen, dass ich die letzte Seite dieses Buchs keinesfalls lesen werde. Für mich nicht nachvollziehbar, zumal einer seiner Lieblingssätze in Bezug auf seine Lebenspraxis so lautet: Ich bin nicht du, ich bin ich. Also handle ich auch wie ich. Eh g’scheit. Da sage ich: „Dann sei doch einfach du, und lass mich gefälligst das Ende jedes Thrillers lesen.“
Ausfüllbuch
In manchen Werken stöbere ich hingegen nur herum, wie etwa im Oeuvre „Wir beide in 100 Listen“, das ich irgendwann geschenkt bekam. Ein Ausfüllbuch für Paare, das in dieser Kolumne bereits erwähnt wurde, aber keiner von uns je ausfüllen würde. Dennoch animiert mich das Blättern darin, nachzudenken – zum Beispiel über folgende Aufforderung: „Meine ersten Gedanken, als ich dich gesehen habe.“ Nun, das ist verdammt lange her, doch diesen Moment vergesse ich nie. Die alte KURIER-Kantine war’s, er trug Jeans, enges weißes Shirt, hatte die Haare streng aus dem Gesicht gekämmt und wirkte aerodynamisch, arrogant, anmaßend. So der Typ „Ich mach mir die Welt, wie sie mir gefällt.“ Ein bisserl unsympathisch. Und er trug einen Teller mit vier Fleischknödel durch den Raum – zu Mittag! Als er mir allerdings einige Zeit später gegenübersaß, um mir zu gestehen, wie verliebt er in mich sei, war die ganze Aerodynamik verflogen. Er wirkte auf einmal gar nicht mehr wie so ein Typ, der sich als Bester beim Aufreiß-Kurs „Flirten, flachlegen, flüchten“ profilieren konnte. Im Gegenteil. Seitdem weiß ich, dass jeder Mensch eine zweite Chance verdient hat – und einen zweiten, dritten, sogar vierten Blick.
Er
„Die Gelassenheit ist eine anmutige Form des Selbstbewusstseins“, sagte Marie Ebner von Eschenbach. Ich wüsste allerdings wirklich gern, ob die große Schriftstellerin anmutig in ihrer Mitte geblieben wäre, hätte sie meine Frau bei der Lektüre spannender Bücher erlebt. Oder ob ihr nicht zumindest ein zartes „Ts-ts-ts-ts“ entwichen wäre. Im Angesicht einer Leserin, die zu Beginn eines Buches Zeugin eines literarischen Mordes wird und dann sofort nervös die letzten Seiten durchblättert, um Gewissheit über die entscheidende Wende des Kriminalfalls zu erlangen. Ich habe öfter schon die Frage gestellt: „Warum liest du Thriller, wenn du Dramatik nicht erträgst?“ Und ebenso oft gehört: Weil ich es will! Das ist freilich eine entwaffnende Antwort, zumal eine Fortsetzung des Dialogs („Ja, aber warum willst du es?“) garantiert das Potenzial hat, aus einer Zwinker-Mücke einen Schnoferl-Elefanten zu machen.
Schicksalhaft
Und doch frage ich mich in Anbetracht der Erinnerungen an die ersten Gedanken von einst („Ui, die Holde warat a Offensiverl wert“), ob ich mit diesem Wissen das Erstgespräch mit gnä Kuhn anders gestaltet hätte. Ob ich ihr vielleicht nur den ersten Satz eines Witzes erzählt hätte, um dann ohne jeden Zusammenhang augenblicklich die Pointe (die für sie natürlich keine gewesen wäre) zu offenbaren – begleitet von einem provokant dümmlichen Lachen. Aber vermutlich wäre das unter den vielen Strategien für aussichtsreiche Kontaktaufnahme in Anbetracht schwer identifizierbarer Subtilität nicht die allerbeste gewesen. Also habe ich instinktiv über das schicksalhafte Phänomen des gleichen Sternzeichens gefaselt. Eine Variante, von der sie heute noch sagt: Ganz ehrlich, das war damals echt so banal und durchschaubar. Worauf ich in eschenbach’scher Gelassenheit erwidere: „Und, hat’s funktioniert?“ Dann lächeln wir gemeinsam. Wissend, dass man im Leben nie vorblättern kann, um zu schauen, was passieren wird.
Kommentare