Johannas Fest: Familientisch, Wiege der Gastlichkeit

In vielen Familien ernähren sich die Mitglieder zunehmend asynchron, schreibt Gastrosophin Johanna Zugmann.
Johanna Zugmann

Johanna Zugmann

„Dass ich als jüngstes von sechs Geschwistern aufgewachsen bin, hat mir später teure Outdoor-Survival-Seminare erspart“, pflege ich den Mythos vom verwöhnten Nesthäkchen zu widerlegen. Bei so mancher Mahlzeit mit den drei großen Brüdern gab es nämlich auch anderes zu schlucken als das liebevoll zubereitete Essen. „Bei Tisch wird nicht gestritten!“, rief meine Mutter spätestens dann zur Ordnung, wenn Tränen flossen. Doch die sind längst versiegt und die positiven Erinnerungen an die gemeinsamen Mahlzeiten überwiegen: Schließlich stärkten sie das Wir-Gefühl, gaben Identität und Halt, waren Therapie und Unterhaltung zugleich. Und das täglich!

Meiner Sozialisierung in der Großfamilie ist wohl auch die Freude am gemeinsamen Tafeln mit Gästen geschuldet.

Gastlichkeit ist eine der ältesten kulturellen Errungenschaften der Menschheit. Die Familie ist die kleinste Zelle der Gesellschaft, der Familientisch somit die Wiege der Gastlichkeit.

Aber immer weniger Menschen erfahren die gemeinsame Mahlzeit als eine fixe Institution im häuslichen Privatleben.

Veränderte Formen von Familie und Zusammenleben haben die Bedeutung gemeinsamer Mahlzeiten geschwächt. Unser neues Essverhalten ist geprägt von Informalisierung, Deregulierung, Bequemlichkeit und Schnelligkeit. In vielen Familien ernähren sich die einzelnen Mitglieder zunehmend asynchron, selbst dann, wenn alle zur gleichen Zeit unter einem Dach weilen: Jeder nimmt sich aus dem Eisschrank, worauf er gerade Lust hat, schiebt es in die Mikrowelle und stillt seinen Hunger oft allein vor dem Laptop, Gameboy oder TV-Gerät.

Die Kultur-Historikerin Gabriele Sorgo fasst die Problematik der „Eigenbrötler“ prägnant zusammen: „In Zeiten der Single-Haushalte und der desynchronisierten Arbeitszeiten bleibt man allein am Tisch oft sozial hungrig, und die Identitätsvergewisserung, die sich einstellt, wenn man mit anderen etwas isst, fällt beim Zwischendurch-Essen weg.“

Die soziale Dimension des EssensAm Familientisch lernen Kinder zu teilen, auszuteilen, sich im Tischgespräch mitzuteilen und Anteil zu nehmen. Und das 1 x 1 der Tischmanieren.

„Sitz gerade, stocher’ nicht im Essen ’rum, halt’ die Gabel ordentlich, schmatz’ und schlürf’ nicht und sprich’ nicht mit vollem Mund!“ – Wie es manchen Kindern scheinen mag, ist die gemeinsame Verzehrsituation mit Mama, Papa und Geschwistern ein einziger Hürdenlauf durch Ge- und Verbote. Und wenn die gemeinsame Tafel auch noch zur handyfreien Zone erklärt wird, mutiert die Mahlzeit für viele Teenager zur Qualzeit.

Dass für das gemeinsame Essen im familiären Kreis keine Zeit mehr bleibt und dass damit kulturelle Errungenschaften wie die simpelsten Etikette-Regeln nicht mehr in der Kindheit nebenher geübt werden, kann sich übrigens später bei den jungen Erwachsenen auch als „Karrierekiller“ erweisen. Immer mehr Personalentscheider gehen mit Kandidaten, die in die engere Auswahl für die Besetzung einer Schlüsselposition kommen, erst einmal essen. Dabei offenbaren sich die feinen Unterschiede, oder frei nach dem Soziologen Pierre Bourdieu, die Distinktion.

Und die kann bei gleich vorbildlichen Lebensläufen entscheidend sein.

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