Barbara Kaufmann: Worüber nicht geschrieben wird

Sorgen und Ängste einer Altenpflegerin um halb vier Uhr in der Früh.
Barbara Kaufmann

Barbara Kaufmann

Halb vier Uhr in der Früh ist eine Unzeit. Der Morgen ist noch weit weg und die Nacht doch schon fast vergangen. Um halb vier gibt es kein Frühstücksfernsehen, keine fröhliche Morgensendung im Radio, um halb vier liegt noch keine Zeitung vor der Tür. Um halb vier läutet Silvias Wecker. Zweimal in der Woche, manchmal auch dreimal, wenn sie den „Einserdienst“ im Pflegeheim hat, steht sie um halb vier auf, macht sich Kaffee und blickt in die Dunkelheit hinaus auf den Garten mit den vielen Apfelbäumen.

Sie könnte auch eine halbe Stunde später aufstehen, aber sie braucht die Zeit zum Frühstücken. Mit leerem Magen kann sie nicht Autofahren und sie muss weit fahren an jedem Arbeitstag. Eine Stunde zwanzig Minuten in eine Richtung, von der Tür ihres Hauses bis zur Tür des Heims in der Stadt. Im Winter kann es auch länger dauern.

Sie braucht die halbe Stunde mehr am Morgen nicht nur zum Frühstücken. Sondern auch, weil es an Tagen mit „Einserdienst“ die einzige halbe Stunden ist, in der sie mit sich allein ist. Und auf nichts und niemanden achten muss. Nicht auf den Verkehr, nicht auf die Kolleginnen, nicht auf ihre Familie und nicht auf die Bedürfnisse der Menschen im Heim, um die sie sich kümmert.

Silvia mag ihre Arbeit. Du kriegst so viel zurück, sagt sie. Gerade die alten Menschen sind für vieles dankbar, was für die meisten selbstverständlich ist. Es ist ein schöner Beruf, sagt sie. Aber darüber wird ja nichts geschrieben.

In die Stadt ziehen, näher zu ihrem Arbeitsplatz, das will sie nicht. Das alte Haus der Oma aufgeben mit dem riesigen Garten davor, in dem ihre Kinder spielen. Die Nähe zu ihrer Mutter, die nicht weit entfernt wohnt und auf die Kinder aufpasst. Die engen Freundschaften gegen die Anonymität tauschen, unvorstellbar. Im letzten Winter hat ihr der Nachbar das Auto ausgeschaufelt, weil es die ganze Nacht geschneit hat. Um dreiviertel fünf am Morgen. Das soll man mir zeigen, sagt sie, dass das jemand in der Stadt einfach so für den anderen macht. Zusammenhalten ist das wichtigste, sagt sie.

Im Heim hat sie eine Kollegin aus dem Iran. Wie die mit den alten Leuten umgeht, sagt sie, so liebevoll, mit so viel Respekt. Da könnten sich viele etwas davon abschneiden, die dauernd über die Fremden schimpfen. Aber darüber wird ja nichts geschrieben. Silvia hat auch Sorgen. So wie all die anderen Frauen, die in die Stadt pendeln wie sie.

Wie wird man das mit den Kindern machen, wenn die Eltern nicht mehr aufpassen können? Weit und breit gibt es keine Tagesmutter, keinen Kindergarten und keinen Hort. Wie wird es werden, wenn die Eltern selbst zu Pflegefällen werden, aber nicht ins Heim wollen in die Stadt? Wie wird es werden, wenn die Kinder Lehrstellen brauchen, Sommerjobs? Werden sie dann auch wie Silvia möglichst jung den Führerschein machen? Weite Strecken fahren? Wie wird es Silvia damit gehen? Wo doch so viel passiert, sagt sie. Wo man doch am Straßenrand immer wieder Kreuze sieht, die an einen Verunglückten erinnern.

Wie das alles werden soll, das fragt sie sich oft frühmorgens um halb vier, wenn sie aus dem Fenster blickt. Das sind unsere Sorgen, sagt sie, aber darüber wird ja nichts geschrieben.

barbara.kaufmann@kurier.at

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