Barbara Kaufmann: Psychisch krank
Manchmal wäre es besser, abzuwarten. Weil die Sachlage noch unklar ist, weil man auch als Journalist noch nichts weiß, weil dann doch nur Spekulationen bleiben. Und der Kern der Spekulation der Verdacht ist. Nicht die Tatsache. Aber das Warten ist keine journalistische Disziplin, erst recht nicht im Angesicht von Katastrophen und Ereignissen, deren zerstörerische Wucht die Gesellschaft erschüttert. Am Samstagabend läuft der Fernseher stumm im Wohnzimmer. Ich habe den Ton abgedreht. Die hilflose Moderation muss nicht sein, die Bilder sind verstörend genug. Sie zeigen Absperrungen in der Münsteraner Innenstadt, Polizisten mit gelben Warnwesten, Einsatzwägen. Ein Amokfahrer hat unschuldige Menschen ermordet und sich danach selbst das Leben genommen. Mehr weiß man noch nicht, nur langsam sickern Informationen zum Täter durch. Zum Alter, zur Herkunft, zu seiner Verfassung.
„Psychisch krank“ sei er gewesen, heißt es. Und es dauert nicht lange, bis sämtliche Medien diesen Befund übernehmen. In den Nachrichtensendungen der nächsten Stunden und Tage, in den Zeitungen und Onlinemedien, überall ist es zu lesen, immer wieder wird es als Grund für die Wahnsinnstat präsentiert, „psychisch krank.“ Woran genau der Täter erkrankt gewesen war, bleiben die Medien schuldig. Es werden Dokumente gefunden, die er an Bekannte und Nachbarn versendet hat. Kein Abschiedsbrief, sondern Aufzeichnungen, in denen er sich seitenweise über sein Leben beklagt, seine Kindheit, sein Umfeld. Gekränkt und selbstmitleidig sei der Tonfall, berichten Ermittler. Aber das allein macht noch keine psychische Erkrankung.
Mäßigung
In der Süddeutschen Zeitung mahnt ein Psychiater verbale Mäßigung ein. Er ist der einzige, der darauf aufmerksam macht, dass die mittlerweile als Tatsache präsentierte psychische Erkrankung des Täters noch gar nicht feststehe. Er bittet darum, in der Berichterstattung genauer zu sein. Darauf zu achten, dass das Pauschalurteil „psychisch krank = böse“ vielen Menschen Unrecht täte, die an einer psychischen Krankheit litten und niemals zu so einer Tat fähig wären. Seine Bitte um mehr Umsicht verhallt ungehört, wie immer in Zeiten größter Aufregung. Sie macht manche Leser sogar wütend.
Wie soll man denn, fragen sie, einen Menschen sonst bezeichnen, der Unschuldige in den Tod reißt? Wenn nicht als „krank, verrückt, irre“? Und kann man es ihnen verübeln? Nennt man widersprüchliche Charaktere nicht schnell mal schizophren? Werden sprunghafte Menschen nicht gedankenlos als manisch-depressiv bezeichnet, ernste Mitmenschen depressiv genannt? Werfen nicht auch Journalisten oftmals überstürzt mit diesen Begriffen um sich? Ohne sich den Kopf darüber zu zerbrechen, was das auslöst, was es mit jenen Menschen macht, die tatsächlich an diesen Erkrankungen leiden, die mit ihnen Tag für Tag kämpfen? Während das in anderen Bereichen, wie etwa der Politik zum Standard gehört, gibt es kaum Bemühungen um Präzision im Zusammenhang mit der Berichterstattung über psychische Erkrankungen. Auch das hat Münster wieder einmal gezeigt.
Mittlerweile ist man in manchen Medien dazu übergangen, den Täter von Münster als „psychisch auffällig“ bzw. „labil“ zu bezeichnen. Immerhin.
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