Barbara Kaufmann: Ich habe jetzt keine Zeit für den Tod

Als Freund war er launisch, ungerecht und aufbrausend. Und er war großzügig, aufmerksam und liebevoll.
Barbara Kaufmann

Barbara Kaufmann

Heute fahre ich auf Urlaub. Ich habe hart an einem Projekt gearbeitet, das endlich fertig ist. Ich habe einige unangenehme medizinische Untersuchungen hinter mich gebracht, deren Ergebnis zum Glück gut war. Ich habe mir diesen Urlaub verdient.

Ich habe jetzt keine Zeit für den Tod.

Wenn ich an meinen Freund denke, muss ich an ein Begräbnis denken. Ausgerechnet. Da haben wir uns das letzte Mal gesehen und es ist so lange her, dass ich nicht weiß, ob ich ihn noch Freund nennen soll. Ob ich das Recht dazu habe, ihn zu vermissen. Ob ich traurig sein darf. Aber ich bin es.

Er hatte die Freundin des Verstorbenen gestützt. Dezent, so dass es niemand sehen konnte. So war er immer gewesen. Theatralisch, laut, voller Pathos, ein Mann der großen Gesten und Reden, der ein ganzes Lokal unterhalten konnte. Aber wenn es ernst wurde, wenn es ums Überleben ging, dann war er plötzlich ganz still, dann war er fürsorglich und sanft.

Eines Nachts am Donaukanal war ich einfach umgekippt. Das ist ganz unmythisch, anders als in den Filmen. Man fällt, man sieht noch die verwunderten Gesichter der anderen, dann liegt man schon. Ich hatte Getränke mit Tabletten gemischt, aus Ahnungslosigkeit, vielleicht auch weil ich mich wirklich nicht mehr spüren wollte.

Als ich die Augen öffnete, sah ich in seine. Er saß neben mir. „Wenn du dich umbringen willst“, sagte er und seine Stimme klang besorgt, „hättest du es mit 17 machen sollen. Da ist es dramatisch. Jetzt ist es nur noch peinlich.“ Diese Grobheit war typisch für ihn. Und ich mochte sie. Ich mochte die Unerbittlichkeit, mit der er anderen und sich selbst und seiner eigenen Verletzlichkeit begegnete.

Ich mochte das Raue, das Gedankenlose, die ruppige Herzlichkeit. Weil sie echt war.

„Weißt du“, hatte er einmal gesagt, als es noch nicht entschieden war, ob wir Freunde werden würden oder Liebende, „wir würden uns glaub ich sehr unglücklich machen. Mir ist das egal, weil ich meistens unglücklich bin. Aber du hast es schon schwer genug ohne mich.“ Und ich weiß noch, dass ich fast gekränkt gewesen war für einen Augenblick und ihm beweisen wollte, dass er Unrecht hatte. Es aber dann bleiben ließ. Eine gute Entscheidung im Nachhinein. Ob sie richtig war, werde ich nie erfahren.

Als Freund war er launisch, ungerecht und aufbrausend. Und er war großzügig, aufmerksam und liebevoll. Er war grausam und unberechenbar und er war voller Wärme. Er war ein Mensch, neben dem man sich lebendig fühlte. Der vieles sagte, was man nicht sagt und vieles tat, von dem man nicht wollte, dass es einem selbst angetan wurde. Und doch hat man ihm alles verziehen. Man konnte zu Beginn des Abends fürchterlich mit ihm streiten und am Ende selig an seiner Schulter lehnen und sich so sicher und geborgen fühlen wie schon lange nicht. Menschen wie er fehlen mir heute. Menschen, die ihre Widersprüche, ihre inneren Kämpfe nach außen tragen. Gut sichtbar für alle. Nichts ist einfach, niemand ist es. Ich war nicht auf seinem Begräbnis. Ich habe jetzt keine Zeit für den Tod. Ich fahre heute auf Urlaub. Ich weiß nicht, ob ich traurig sein darf. Aber ich bin es. Und wenn ich am Meer bin, werde ich auf ihn trinken. 

barbara.kaufmann@kurier.at

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