Barbara Kaufmann: Die Rache der Gekränkten
Irgendetwas bricht gerade. Und man muss nicht mehr still sein, um es hören zu können. Es sind nicht die viel zitierten Dämme. Ein Damm ist ein Bollwerk, ein Schutz, eine Mauer. Wenn alle Dämme brechen, dann kommt die große Flut. Ein Strom, der alles mitreißt.
Aber nichts fließt hier. Es wabert eher dickflüssig wie zäher Schleim, legt sich auf die Oberfläche, sickert langsam ein. Manche bleiben darin stecken, gehen qualvoll unter, ungehört. Es sind jene, die keine Stimme haben. Die am Rand leben. Und wenn sie fehlen, wem fällt es auf? Wo doch die meisten noch gut vorwärts kommen, auch wenn der Dreck an ihren Stiefel klebt, noch setzen sie einen Fuß vor den anderen.
Nein, es sind keine Dämme, die brechen. Es ist die Fassade, die bricht. Gold und Purpur bekommen Kratzer, das Staatstragende bröckelt. Jeden Tag etwas mehr.
Dahinter kommt sie zum Vorschein, immer deutlicher, immer lauter, immer haltloser: die Wut der Gekränkten. Sie brüllen sie in Kameras und Mikrophone, sie bringen sie auf die politische Bühne, national und international. Untergriffe, Übergriffe, immer unbeherrscht, immer rüde, immer mit sich selbst beschäftigt, denn alles ist Angriff, alles Feind. Alles geht gegen sie. Jeder Widerspruch ist Hochverrat. Es ist immer Krieg.
Die Gekränkten zerstören anstatt zu versöhnen, sie sind launisch, autoritär, unberechenbar. Die Gekränkten umgeben sich nur mit Gleichgesinnten, kapseln sich ab, bunkern sich ein. Gegenreden sind unerwünscht. Gegenreden werden unterbrochen, unterbunden, abgeschnitten. Gegenreden sind Kritik und jede Kritik ist neue Kränkung. Kränkungen wiegen schwer, Kränkungen sind wichtiger als Frieden, Amt, Verantwortung. Kränkungen müssen vergolten werden. Also werden Rachefeldzüge gestartet, Verleumdungen in Umlauf gebracht, also wird gelogen, wird Macht missbraucht, wird haltlos um sich geschlagen, mit voller Härte. Unwürdig für das Amt, schädlich für das Ansehen. Die Würde ihrer Opfer, sie bedeutet ihnen nichts. Es ist immer Krieg.
Die Gekränkten sind einsam. Denn kaum einer versteht das tiefe Unrecht, das ihnen angetan wurde und noch angetan wird. Den Schmerz, den sie empfinden. Die Ungerechtigkeiten, mit denen sie leben müssen. Wer könnte es auch? Die Kindergärtnerin, der Altenpfleger, die Volksschullehrerin? Natürlich könnten sie auch gekränkt sein, darüber wie man sie behandelt, wie man sie bezahlt, wie ihr Pensum ständig wächst, aber es fehlt ihnen die Zeit dafür. Sie haben nicht den Luxus der Gekränkten, zu wüten und zu toben, verbal um sich zu schlagen, andere nachzuäffen, abzuwerten, anzugreifen. Sie könnten sich das nicht leisten. Niemand könnte das. Außer den Gekränkten. Konventionen werden nicht nur missachtet, sie werden ignoriert. Regeln verhöhnt, Gesetze zum eigenen Vorteil ausgelegt. Kritiker trifft die Rache der Gekränkten. Sie werden verfolgt, verklagt, bloßgestellt, sie werden eingeschüchtert, bedroht, ausgestellt. Nicht im Verborgenen, sondern mitten unter uns. Irgendetwas bricht gerade. Es ist das Versprechen an die Demokratie. Auf sie zu achten, sie nicht zu kränken, jeden Tag etwas mehr. Und die Menge johlt, tobt und brüllt mit den Gekränkten. Es ist immer Krieg.barbara.kaufmann
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