Ist es Wahnsinn? Oder „nur“ der Schrei nach Freiheit?

Andreas Jähnert als Gogols wahnsinniger Poprischtschin
„Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen“ von Nikolai Gogol in einer Fassung von Arturas Valudskis mit Andreas Jähnert im Salzburger Toihaus Theater.

Ist es der hohe Zeitungsstapel auf dem Andreas Jähnert in der Rolle des Titularrates Poprischtschin sein Haupt bettet, der die spontane erste Gedankenbrücke zu einem Spiel zwischen Fakten und Fake News herstellt?

Zweite Assoziation – sicher ausgelöst von der großen über dem engen Spielort hängende Lichtquelle die an eine fast überdimensionale Verhörlampe erinnert: Zelle eines politischen Häftlings. Die Bilder des Rezensenten müssen aber keineswegs die anderer Zuschauer_innen sein.

Wie auch immer, im Salzburger Toihaus Theater hatte Ende November Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen“ von Nikolai Wassiljewitsch Gogol (erschienen 1835) in einer gekürzten, rund 5/4-stündigen Fassung Premiere (der Kinder-KURIER war bei einer der letzten Proben). Zum nächsten Mal wird das „kafkaeske“, dichte, in manchen Szenen fast kaum auszuhaltende Stück am 10. Dezember (2019), übrigens dem internationalen Tag der Menschenrechte, zu erleben sein.

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Rgisseur und Autor der Bühnenfassung: Arturas Valudskis

Russischer Kafka

Der in der damaligen Sowjetrepublik Litauen aufgewachsene und seit einem Vierteljahrhundert in Salzburg lebende studierte Schauspieler und Regisseur, vor allem aber Theaterenthusiast Arturas Valudskis vergleicht Gogol mit Franz Kafka, nur schreibe Gogol noch theatertauglicher.

Macht?

Die „Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen“ sind eine – relativ kurze – Sammlung von Tagebucheinträgen eines Beamten. Einerseits macht ihn der Alltagstrott fertig. Mehr scheint ihn aber zu stören, dass er, obwohl diese Stellung gesellschaftlich schon nicht zu den schlechtesten zählt, sich zu noch Höherem berufen fühlt - und es nicht erreichen kann - standesabhängig. Aber eigentlich „nur“, um andere seine Macht spüren zu lassen. „Wie gerne möchte auch ich General werden, … nur deshalb … um zu sehen, wie sie vor mir scharwenzeln und alle diese höfischen Kunststücke und Manieren zeigen werden, und um ihnen dann zu sagen, dass ich auf sie … spucke.“

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Wahn- und immer -sinniger

Also steigert sich der Protagonist in seinen Hirngespinsten zum vermeintlichen Nachfolger des verstorbenen spanischen Königs… Wirr und immer wirrer werden die Tagebucheinträge – was sich allein schon an den Datumsangaben ablesen lässt. Nach echt möglichen kommen solche wie 43. April oder gar der 86. Martember, zwischen Tag und Nacht.

Wobei Gogol in so manche scheinbar wahnsinnige „Aufzeichnung“ nicht selten Krtik verpackt haben dürfte. Wenn Poprischtschin an mehreren Stellen von sprechenden Hunden erzählt, so stehen die offenkundig nicht wirklich (nur) für die bekannten Tiere. „Ich habe schon längst vermutet, dass der Hund viel klüger ist als der Mensch; ich bin sogar überzeugt, dass er zu sprechen versteht und es nur aus Trotz nicht tut. So ein Hund ist ein hervorragender Politiker: er merkt sich alles, jeden Schritt, den der Mensch tut.“

Ist es Wahnsinn? Oder „nur“ der Schrei nach Freiheit?

Andreas Jähnert als Gogols wahnsinniger Poprischtschin

Getrieben oder sich selbst treibend

Das dichte Spiel von Jähnert in Valudskis‘ Fassung und Regie lässt uns einen in den Wahn Getriebenen – oder sich selbst Treibenden erleben. Getrieben vom Druck, was Besseres sein zu wollen oder vermeintlich zu müssen. Etwas, das knapp weniger als 200 Jahre später nicht ganz unbekannt sein dürfte.

Eingesperrt

Poprischtschin könnte aber ebenso ein – aus welchen Gründen auch immer – in einer geschlossenen psychiatrischen Anstalt oder einer Gefängniszelle inhaftierter psychisch Gefolterter sein, der in den Wahn gehetzt oder gespritzt seine sich ins Absurde steigernden Tagebucheinträge fantasiert.

Vor allem aber sind es – zwischen den Zeilen, aber massiv im Spiel zu erlebende – Rufe, ja Schreie um Hilfe, um Rettung aus dem Wahnsinn – oder „nur“ nach Freiheit?!

Arturas Valudskis hat Gogols Text gewählt, weil er, wie der dem Reporter sagt, „gut zu dem Schauspieler passt. Ich suche immer zuerst Schauspielerinnen und Schauspieler und dann die für sie passenden Stücke.“ Und weil er als intensiver Kenner der russischen Literatur mit bisherigen Übersetzungen oft nicht ganz zufrieden ist, fertigt er nicht selten auch eigene Übersetzungen/Übertragungen des Originals an, bevor er Bühnenfassungen schreibt.

Follow@kikuheinz

Compliance-Hinweis: Das Salzburger Toihaus Theater hat den Kinder-KURIER auf die Fahrt nach Salzburg - und zurück - eingeladen.

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Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen
Nikolai Wassiljewitsch Gogol

Bühnenfassung / Regie / Dramaturgie / Ausstattung: Arturas Valudskis
Spiel: Andreas Jähnert

Licht und Technik: Alexander Breitner, Robert Schmidjell

Wann & wo?
10. Dezember 2019
Toihaus Theater: 5020 Salzburg, Franz-Josef-Straße 4
Telefon: (0662) 874 439-0
office@toihaus.at
www.toihaus.at

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