Fst 1/3 in Win: Wru drfn wr ncht whln?
„Ich hab mich immer schon für Politik interessiert, ich bin hier geboren und es regt mich auf, dass ich nicht mitbestimmen, nicht wählen darf“, sagt die 19-jährige Natalia zum Kinder-KURIER. Sie ist im dritten Jahr ihrer Einzelhandelslehre in einer großen Supermarktkette. Am meisten redet und diskutiert sie mit Freund_innen, in der Familie und mit Arbeitskolleginnen und -kollegen über die bevorstehenden Wahlen in Wien. „Natürlich interessiere ich mich dafür, darum finde ich es ja ungerecht, dass ich – aber auch viele andere – nicht wählen dürfen. Die Kosten für die österreichische Staatsbürgerschaft sind einfach zu hoch. Und jetzt würde ich auch meine polnische Staatsbürgerschaft gar nicht mehr hergeben wollen. Ich finde, es sollten alle, die schon lange hier leben oder sogar hier geboren sind, wählen dürfen.“
Eine halbe Million, allein 72.000 mögliche Jungwähler_innen
Konkret trifft dieser Ausschluss von der Wahl wienweit rund 30 Prozent, also fast ein Drittel der Bevölkerung im Wahlalter, in Summe etwa eine halbe Million Wienerinnen und Wiener. Allein an die 75.000 junge Leute zwischen 16 und 24 Jahren, also sehr viele mögliche Erstwähler_innen. Selbst bei den kürzlich in Vorarlberg abgehaltenen Gemeinderatswahlen waren rund 8,5 % der Bewohner_innen nicht wahlberechtigt, weit mehr als die Hälfte von ihnen lebt seit mehr als 10 Jahren im Ländle. Bei landesweiten Wahlen darf rund jeder sechste Mensch nicht mitbestimmen (Quelle: SOS Mitmensch).
Gespräch mit zwei Jugendlichen, die von ihren Schulkolleginnen und -kollegen als Vertretung gewählt wurden hier unten:
Das ist nicht nur ungerecht, es stößt vor allem Jugendliche, die in der Schule mit ihren Klassenkolleg_innen im Unterricht von Demokratie lernen, über bevorstehende Wahlen diskutieren, vor den Kopf, ver- und behindert Integration, fördert das Gegenteil. Wenn’s mich nicht mitreden/mitbestimmen lasst’s, dann interessiert’s mich auch nicht.
Demokratiepolitischer Skandal und Verlust
Diese Tatsache, eigentlich ein demokratiepolitischer Skandal, wie die Wiener Jugendzentren bei einem Mediengespräch Mitte September meinen, bedeutet auch große Verluste für das Gemeinwesen. Wenn Ideen, Wünsche, Meinungen, Beteiligung so vieler Menschen, in manchen Bezirken schon von fast der Hälfte der Bevölkerung, nicht gefragt, nicht genutzt werden, dann geht der Stadt auch viel Potenzial verloren.
Bilder, Schrift und Töne: 30 % fehlen
In Pickerln, Plakaten und Videos der Jugendzentren-Kampagne „fehlen“ jeweils 30 % der Buchstaben oder Bilder oder des gesprochenen Textes in den Videos (piiiiiep), um plastisch vor Augen und Ohren zu führen, was es mit etwas Ganzem macht, wenn fast ein Drittel fehlt – so wie auch in der Überschrift dieses Beitrages ;)
Rap und Musikvideo
Neben einzelnen Jugendlichen, die schon kurze Videos zum Thema gedreht haben – siehe hier im Beitrag eingestreute YouTube-Links -, hat der Jugendliche Ufuk mit dem Rap-Duo TwoScales ein Musik-Video „30 %“ gedreht. Die beiden – Martin und Paul – hatte einander vor rund drei Jahren bei einem Event der mobilen Jugendarbeit 16./17. Bezirk kennengelernt. Beide waren damals als Solisten aufgetreten und beschlossen am Rande der Veranstaltung, „lass uns doch gemeinsam was machen“. Dann wurden sie vor ein paar Monaten von den Jugendzentren angesprochen, ob sie sich nicht Texte und Musik dazu einfallen lassen wollen, dass eben so viele nicht wählen dürfen. Der eine dürfte wählen, interessiert sich dafür aber nicht so besonders, „weil viele meiner Freunde nicht wählen dürfen“. Aber ungerecht finden’s beide. Ist zu hören – und zu sehen. Für Ufuk war’s der erste Dreh mit einer großen, professionellen Kamera, „bis dahin hab ich nur mit dem Handy Videos gedreht“.
Pflichten ohne Rechte
Diese Menschen werden auf ihre Pflichten reduziert, ohne das grundlegende demokratische Mitbestimmungsrecht zu haben – was auch Demokratie-Bildung sehr erschwert, so Ilkim Erdost, Geschäftsführerin des Vereins Wiener Jugendzentren. Entweder Wahlen entkoppeln von der Staatsbürgerschaft oder leichterer Zugang zum österreichischen Pass – so die operative Chefin der Jugendzentren – nicht zuletzt geboren aus den Erfahrungen der Besucher_innen der rund drei Dutzend Einrichtungen des Vereins.
Wissenschafter: Österreich fast am restriktivsten
Jeremias Stadlmair, Politikwissenschafter an den Unis Innsbruck und Wien, wies beim Mediengespräch auch darauf hin, dass Österreich zu den Ländern mit den einschränkendsten Bestimmungen gehört, um die Staatsbürgerschaft zu erlangen. In seiner Uni-Assistenten-Zeit hätte er die Einkommensgrenzen auch nicht erreicht. Etwa ein Drittel aller österreichischen weiblichen Angestellten und fast die Hälfte aller Pensionistinnen würden ebenfalls die für die Staatsbürgerschaft erforderlichen Einkommenshürden – Ausgleichszulage (966,65 €) plus regelmäßige Aufwendungen wie Miete usw. - nicht überspringen.
Das Staatsbürgerschaftsrecht Österreichs ist im europäischen Vergleich eines der restriktivsten, was eine Studie der Arbeiterkammer Wien aus dem Jahr 2013 belegt, wo unter anderem folgende Voraussetzungen zusammengefasst wurden:
- Durchgängige Mindestaufenthaltsdauer von 10 Jahren bei der Ermessenseinbürgerung – länger darf diese Frist auf Grund der europäischen Konvention nicht sein
- Kosten von 970 EUR bis 2.100 EUR je nach Bundesland und der dort gültigen Gebührenverordnung – in der Europäischen Union ist Österreich damit Spitzenreiter, nur in der Schweiz sind die Kosten noch höher
- Mindesteinkommen weit über 900 EUR monatlich (abzgl. Miete, Kreditraten, Unterhaltszahlungen u. Ä.). Bei Betrachtung der Einkommensdaten der Statistik Austria wird deutlich, dass das mittlere Einkommen der unteren Einkommenshälfte aller Österreicher_innen 2017 bei € 10.045 EUR netto jährlich (unter 900 € monatlich) lag.
- Sprachnachweis auf mindestens B1 Niveau – auch hier liegt Österreich im Spitzenfeld
Fast überall niedrigere Hürden
In etlichen europäischen und EU-Ländern sei es möglich die Staatsbürgerschaft mit der Geburt zu erlangen. Werden Aufenthaltsdauer, Einkommensgrenzen, Steuern und Staatsbürgerschaft summiert, so liege Österreich mit Litauen an der Spitze – was die härtesten Voraussetzungen betrifft, eingebürgert zu werden. Am liberalsten ist Schweden, aber auch Irland, Portugal, Malta, Zypern, Rumänien usw. und selbst Deutschland errichten weniger Hürden für Neo-Staatsbürger_innen.
Weil nicht berechtigt, sinkt Interesse
Santos ist einer, der vor wenigen Tagen das letzte fehlende Dokument für seinen Antrag auf die österreichische Staatsbürgerschaft abgegeben hat. Er Einzelhandelskauf-Lehrling (2. Lehrjahr) wohnt noch bei den Eltern, weshalb seine Einkommenshürde niedriger ist, da er nichts für die Miete ausgeben muss. Der vielsprachige junge Mann – Deutsch, Englisch, Portugiesisch, Nepalesisch. „Ich würde schon gerne wählen, weil ich aber noch nicht wahlberechtigt bin, interessiere ich mich noch gar nicht so sehr für die Wien-Wahl.“
Würde gern auch mitbestimmen
In einem Video der Jugendzentren tritt Ibragim Kavkaliev auf. Der 19-Jährige liebt Schauspiel, hat auch schon in der TV-serie („Eine Stadt sucht einen Mörder“) mitgespielt, in seiner Schule Theater gespielt und wartet nun, ob er für die Ausbildung als Freizeitpädagoge aufgenommen wird. „Ich mag es, mit Kindern zu spielen und reden.“ Auch er würde gerne wählen, „weil ich nicht will, dass andere über mein Leben bestimmen ohne dass ich mitreden darf“.
Fast immer Klassensprecherin
Tekla Scharwaschidze (in wenigen Tagen 21) studiert Internationale Betriebswirtschaftslehre an der WU. Ihr verpflichtendes Auslandssemester, für das sie noch zwischen Rotterdam, Straßburg und Maastricht schwankt, steht wegen Corona ein bisschen in den Sternen.
In Georgien geboren, kam sie mit 3 Jahren mit ihrer Familie nach Österreich. Allein zwölf Jahre musste die Familie auf einen Aufenthaltstitel warten. „Die zählen übrigens nicht für die Wartezeit auf die Staatsbürgerschaft. Meine Schwester, die jetzt 17 ist, wurde in Wien geboren. Und trotzdem darf sie auch nicht wählen.“
Tekla Scharwaschidze würde nicht nur liebend gern bei allgemeinen Wahlen ihre Stimme abgeben. Gewählt hat sie schon oft und wurde auch häufig gewählt. Immer wieder als Klassensprecherin. „Ich bin so ein Mensch, der sich gerne für Dinge engagiert, einsetzt. Darum haben meine Klassenkolleginnen und -kollegen immer wieder für mich gestimmt. Aber ich interessiere mich auch sehr für alles Politische, diskutiere oft in der Familie und im Freundeskreis.“
SOS Mitmensch
Weil sie auch immer wieder öffentlich das Wort ergreift - unter anderem als eine der Sieger_innen des mehrsprachigen Redebewerbs „SAG’S MULTI!“ (2014/15) -, wurde sie auch von SOS Mitmensch angesprochen – und erhob auch im Rahmen der Kampagne der Menschenrechtsorganisation ihre Stimme für das Wahlrecht für all jene, die schon lange in Österreich leben.
Noch hat sie die georgische Staatsbürgerschaft und wird per Briefwahl oder online bei den Wahlen am 31. Oktober abstimmen. Viel lieber aber würde sie hier wählen dürfen, „weil ich hier lebe, mich alle Entscheidungen hier betreffen – ob es die Bildung betrifft oder vieles im Alltag“.
Frustrierend, aber andere animiert
Mit 16 sei ihr das zum ersten Mal so krass bewusst geworden. „Wir haben in der Schule über die Bundespräsidentschaftswahl diskutiert. Die anderen durften zum ersten Mal wählen. Ich hab mich genau so informiert, aber ich durfte nicht mitbestimmen. Das war schon sehr frustrierend. Aber es war auch ein Ansporn für mich, anderen zu sagen, wie wichtig es ist, wählen zu gehen. Viele, die das Wahlrecht haben, nehmen es für zu selbstverständlich und schätzen dieses Recht gar nicht so richtig.“
Staatsbürgerschaftshürden
Wenn sie dafür eintritt, dass Menschen wie sie auch wählen dürfen sollten, höre sie oft, „naja, musst halt die Staatsbürgerschaft beantragen“. Aber nicht nur, dass die Wartezeit für ihre Familie nach 12 Jahren noch einmal zu laufen begonnen hat, „es ist für Jugendliche auch nicht gerade leicht. Eine Freundin von mir, die ist 18, wollte die Staatsbürgerschaft alleine für sich beantragen, weil sie hier geboren ist, aber sie kann sich gerade knapp nach der Schule die Gebühren nicht leisten und das Einkommen, das verlangt wird, hat sie auch nicht.“
Außerdem lenke die Frage der Staatsbürgerschaft vom Wesentlichen ab, „dass so viele Menschen vom Wahlrecht ausgeschlossen sind und das oft dazu führt, dass sie sich von der Politik in Österreich distanzieren, dass das dann keine Themen im eigenen Freundes- und Familienkreis sind.“
(Keine) Antworten aus der Politik
„Wir haben in den vergangenen Jahren selbst mehrmals – etwa im Wiener Integrations- und Diversitätsmonitor – auf das Demokratiedefizit aufmerksam gemacht. Ich sehe in der wachsenden Lücke zwischen Wohnbevölkerung und Wahlberechtigten ein demokratiepolitisches Problem“, meinte der u.a. für Jugend, aber auch Integration sowie Wahlen zuständige Wiener Stadtrat Jürgen Czernohorszky in einem Statement gegenüber dem Kinder-KURIER.
„Unser Ansatz ist ein einfacherer Zugang zur österreichischen Staatsbürgerschaft: Wir wollen ein modernes StaatsbürgerInnenrecht, das schneller und einfacher Teilhabe ermöglicht und das nicht zwischen arm und reich trennt. Hohe Hürden durch Gebühren, Einkommensgrenzen und Aufenthaltsdauer sollen abgebaut werden.
"Wir wollen in Wien daher einerseits verstärkt dazu motivieren, die österreichische Staatsbürgerschaft zu beantragen, und andererseits den Zugang zur Staatsbürgerschaft erleichtern, indem wir etwa in Wien die Landesgebühren deutlich senken", so der Stadtrat. Die entsprechende Gebührensenkung soll in der nächsten Legislaturperiode – nach den Wahlen am 11. Oktober – angegangen werden.
Landtag hat's verlangt, VfGH hat's abgelehnt
Der Wiener Landtag hatte 2020 das Wahlrecht auch für Nicht-EU-Bürger_innen auf Bezirksebene (wo EU-Bürger_innen wahlberechtigt sind) gefordert, was aber zwei Jahre später vom Verfassungsgerichtshof aufgehoben wurde.
Wien Bürgermeister Michael Ludwig hatte in der Vorwoche in einem ZiB2-Gespräch dieses nicht mehr gefordert, selbst wenn er darüber bestimmen dürfte, sondern auch von leichterem Zugang zur Staatsbürgerschaft gesprochen.
Grüne: Spätestens nach fünf Jahren
Der Wiener Koalitionspartner, die Grünen, gehen weiter. „Wir fordern schon immer, dass Menschen die seit einigen Jahren in Wien leben, spätestens nach fünf Jahren, auch das Wahlrecht erhalten sollten“, so Kultur- und Budgetsprecher Martin Margulies nach einer Vorstellung des interkulturellen Wiener Vorstadttheaters im Theater Arche zum Kinder-KURIER.
Integrationsministerium: (Noch?) keine Antwort
Das Büro der für Integration auf Bundesebene zuständige Ministerin Susanne Raab ließ eine Anfrage des Kinder-KURIER, ob „daran gedacht (ist), zu diskutieren, ob Wahlrecht in Perspektive auch von Staatsbürgerschaft entkoppelt werden könnte - zumindest auf kommunaler, lokaler, regionaler Ebene? Oder der Zugang zur Staatsbürgerschaft erleichtert werden könnte?“ (noch?) unbeantwortet.
Sosmitmensch -> Pass-egal-briefwahl
Kommentare