Der Weg zur Erkenntnis, es gibt keine Herrenmenschen
Kein leichtes Unterfangen, aber es ist geglückt. Und wie! Das Theater der Jugend in Wien bringt ein – bei uns, mit Ausnahme des Titels, eher weniger bekanntes – Stück Weltliteratur in einer dichten Version auf die Bühne. Gespielt wird im kleineren Haus, wo vor allem Jugendliche (und Erwachsene) das Publikum sind. Fjodor Michailowitsch Dostojewskijs 600-Seiten-Roman der seit einem Vierteljahrhundert in der neuen Übersetzung analog zu vielen anderen Sprachen „Verbrechen und Strafe“ heißt, kommt in seinem ursprünglich übertragenen Titel „Schuld und Sühne“ doch näher an die Intention des russischen Titels mit ethisch, moralischen Komponenten heran.
Moralische Dimension
„Ich finde, man kann den Roman nicht nur auf rechtliche Begriffe reduzieren, das hat eine größere Dimension, es geht einfach tatsächlich um Gewissen, zum Teil auch religiöse Momente, um moralische Fragen“, begründete Theaterdirektor und in diesem Fall auch Regisseur sowie Autor der Stückfassung, Thomas Birkmeier, im Gespräch mit dem Kinder-KURIER nach einer Probe diese Entscheidung. „Der alte Titel geht tiefer. Er hat die größere Dimension, die natürlich tief im Roman drinnen liegt.“
Gebannte Jugendliche
Fast eine Woche nach unserem Probenbesuch war Premiere, der KiKu aber besuchte eine andere Vorstellung, eine in der vor allem Jugendliche saßen von denen die allermeisten konzentriert der verdichteten, spannend gebauten Version folgten. Lediglich so nicht geplantes Gelächter gab's beim echten Knall eines Schusses, den Dunja aus einem Platzpatronen-Revolver auf ihren früheren Dienstherren, der sie zumindest bedrängt hat, Arkadij Swidrigailow (überzeugend vom erst 21-jährigen Matti Melchinger gespielt) abgibt. Und als sie im Verlauf dieser Szene noch bei offenem Kleid in der Rückenansicht ihre Unterwäsche sehen ließ. Zweieinhalb Stunden (eine Pause) die Jugendlichen mit Sprechtheater in den Bann zu ziehen – auch dafür gebührt der Fassung und vor allem dem Schauspielensemble Respekt.
Der Plot
Nun aber, da diese Geschichte hierzulande ja nicht so bekannt ist, kürzest der Kern der Handlung: Rodion Romanowitsch Raskolnikow, Jus-Studienaabbrecher, glaubt, etwas Besseres zu sein. Das verschaffe ihm sogar das Recht, Menschen, die er für weniger Wert hält, zu töten. Und weil sie für ihn sozusagen nicht mehr wirklich Menschen sind, würde ihn das nicht einmal berühren. Dazu verfasst er eine Abhandlung über den außergewöhnlichen Menschen. Gesagt, getan.
Erst wertet er immer und immer wieder die alte Pfandleiherin Aljona Iwanowna (Sara Livia Krierer) sprachlich zur „Laus“ ab, tötet sie – und ihre Schwester, die zufällig auftaucht.
Obwohl Raskolnikow noch an seiner These festhält, überfallen ihn fieberhafte Albträume und schließlich doch Gewissensbisse...
Demaskiert und trotzdem eine faszinierende Seite
Womit Dostojewskij in seinem Roman 1866 das Konzept des später von Friedrich Nietzsche verfochtenen „Herrenmenschen“ schon demaskierte. Trotzdem fasziniert(e) die Figur des Raskolnikow. Trotz seiner Überheblichkeit ist er nicht nur der böse Bube. In seiner Zerrissenheit einerseits und kritischen Anmerkungen zur Ungerechtigkeit des Systems andererseits hat er eine durchaus faszinierende Seite – siehe dazu auch Interviews, die der Kinder-KURIER nach einer Probe mit Regisseur sowie dem Hauptdarsteller führte: hier
Brillanter junger Hauptdarsteller
Birkmeir wählte, wie er im Interview sagt, den Stoff einerseits wegen dieser Thematik, die leider nicht mehr nur Einzelhaltung des Romanhelden ist, sondern (wieder) Zulauf zu bekommen scheint: Aufzuteilen in wertvollere und wertlosere Menschen. Er wählte Dostojewskijs Roman aber auch, weil er eine spannende Rolle für den 26-jährigen Jakob Elsenwenger gesucht hat, „weil ich gewusst hab, das kann er spielen, was nicht viele können. So wie er der jüngste Hamlet war ist er der jüngste Raskolnikow ever.“
Und Elsenwenger bringt’s in der Tat. Er gibt einen stark glaubhaften Ich-Bezogenen, Selbstgerechten nach dem Motto: Alle anderen san deppat, nur ich hab den Durchblick, den Überblick und steh über (fast) allen. Er – und sogar seine blutige Tat – sollen die Welt retten. Seine Schwester Dunja (Kim Bormann) will er vor der Heirat mit dem schmierigen Luschin (Kaj Louis Lucke) bewahren. Wobei ihm die an den Kopf wirft, er würde nur was dagegen haben, dass sie nicht nach seiner Pfeife tanze. Seine Selbstgerechtigkeit lässt er sogar immer wieder seinen einzigen Freund, Rasumichin (Michael Köhler) spüren, der trotz alledem immer zu ihm hält. Ähnlich sein Umgang mit Nastassja (Claudia Waldherr), dem Hausmädchen in diesem Wohnhaus, die ihn ob seiner Klugheit anhimmelt und er sie immer wieder grob behandelt.
Doch Nerven und Anflüge von Gewissen
Erste Verunsicherung zeigt Raskolnikow durch Albträume nach den Morden. Die lässt der Schauspieler kurz anklingen und schiebt sie doch schnell beiseite. Doch folgt eine Art Räuber-Gendarm-Spiel mit dem fallführenden Kriminalinspektor Porfirij (Jürgen Heigl), wo Raskolnikow anfängt Nerven – oder Gewissen (?) zu zeigen. Wirklich knacken lässt er sich allerdings erst durch die Begegnung mit Sonja (Shirina Granmayeh), die als Prostituierte arbeitet, um die Kinder ihres Vaters Marmeladow (Okan Cömert) aus zweiter Ehe und deren Mutter (Sara Livia Krierer) finanziell zu unterstützen. Sie – und erstmals wahrhaft positive Gefühle zu einem anderen Menschen, die sie in ihm auslöst – veranlassen ihn, seine überhebliche Haltung erst anzuzweifeln, dann zu hinterfragen und seine Bluttat als Verbrechen – an der Pfandleiherin – sowie als Sünde – an ihrer Schwester (sich ein-)zu gestehen.
Mehrere Ebenen
Ob Haupt- oder „nur“ Nebenrollen – auch wenn diese Version das Personal der Geschichte eher in Richtung Mittelschicht statt der Armen der Ärmsten im St. Petersburg des Originals verschiebt – das zehnköpfige Ensemble und die Inszenierung bringen in dieser dichten Fassung sowohl die Anflüge dessen, was Menschen aus diesem Kulturkreis die slawische Seele nennen als auch diese leider wieder aktuell gewordene allgemeinere Kernfrage von Herren- und Untermenschentum zum gleichberechtigten Klingen.
Sprech-Chor und kaukasischer Walzer
Apropos Klingen: Die rund zweieinhalb-stündige Aufführung (eine Pause) umfasst neben dem Rhythmus des oft sehr flotten Szenenwechsels auch noch zwei andere (fast) musikalische Rhythmen: In den Erzählpassagen treten die (meisten) Darsteller_innen aus der Rolle ihrer jeweiligen Figuren heraus und erzählen als Art griechischer Chor den Fortgang der Geschichte. Musikalisch im wahrsten Sinn des Wortes wird Dramatik durch Einspielungen von Walzer-Passagen von Aram Chatschaturjan (für das Stück Maskerade komponiert, 1941) vermittelt. Die Kompositionen des Anfang des 20. Jahrhunderts im georgischen Tbilissi geborenen Musikers haben meist auch eine von georgischer, armenischer und kaukasischer Volksmusik angehauchte Note. Übrigens war dies vor rund zehn Jahren auch die Musik für Robert Dornhelms Verfilmung des ebenfalls russischen Weltliteraturwerks „Krieg und Frieden“ (Leo Tolstoi, 1868/69).
Infos: Was? Wer? Wann? Wo?
Schuld und Sühne
nach Fjodor M. Dostojewskij
von Thomas Birkmeir
Ab 13 J.,
Regie: Thomas Birkmeir
Besetzung
Rodion Raskolnikow: Jakob Elsenwenger
Porfirij, Kriminalinspektor: Jürgen Heigl
Pjotr Petrowitsch Luschin: Kaj Louis Lucke
Sonja, Sofja Semjonowna: Shirina Granmayeh
Pulcherija Alexandrowna, Raskolnikows Mutter /
Katerina Marmeladowa /
Aljona Iwanowna, Pfandleiherin: Sara Livia Krierer
Arkadij Swidrigailow, früherer Dienstherr Dunjas /
Polizeibeamter: Matti Melchinger
Nastassja: Claudia Waldherr
Marmeladow / Samjotow, Kriminalbeamter: Okan Cömert
Lisaweta Iwanowna, Schwester der Pfandleiherin /
Dunja, Schwester Raskolnikows: Kim Bormann
Rasumichin, Freund Raskolnikows: Michael Köhler
In weiteren Rollen: Ensemble
Bühne: Andreas Lungenschmid
Kostüme: Irmgard Kersting
Licht: Lukas Kaltenbäck
Dramaturgie: Brigitte Auer
Assistenz und Inspizienz: Eva Maria Gsöllpointner
Hospitanz: Simon Frühwirth
Aufführungsrechte: Theater der Jugend, Wien
Wann & wo?
Bis 27. März 2019
Theater im Zentrum: 1010 Wien, Liliengasse 3
Telefon: (01) 521 10-0
www.tdj.at
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