Slow Medicine: Warum in einer Medizin der Zukunft Geduld zählt
Die Medizin der Zukunft muss langsamer werden: Das klingt auf den ersten Blick paradox, ist aber ein Konzept, das immer mehr Ärzte als wegweisend betrachten. Bei „Slow Medicine“ , erklärt die US-Medizinerin Victoria Sweet, geht es um eine „Medizin mit Seele“, in der der Patient mit seiner Geschichte im Zentrum steht – und nicht sein kranker Körperteil.
Kernstück der Medizin ist für sie Geschichte jedes Patienten. „Dafür muss man den Menschen anschauen, mit ihm sprechen, ihm zuhören.“
Im KURIER-Gespräch erklärt sie, warum wir Krankheiten nicht als „mechanischen Zusammenbruch“ sehen dürfen, sich „schnelle“ und „langsame“ Medizin nicht ausschließen und was Mediziner mit Gärtnern zu tun haben.
KURIER: Dr. Sweet, was ist Slow Medicine eigentlich?
Victoria Sweet: Das Ziel von Slow Medicine ist, die richtige Diagnose zu stellen und die richtige Behandlung in der effizientesten Weise zu gewährleisten. Slow Medicine ist langsam und arbeitet Schritt für Schritt; im selben Sinn wie Slow Food. Das heißt, sie ist Teil der „Slow“-Bewegung, die sich darauf konzentriert, mit welcher Qualität etwas getan wird. Da ist der Weg das Ziel.
Wie kann dieser beste Weg in der Medizin gelingen?
Der Weg dahin verläuft direkt von Person zu Person. Mit einem Arzt, der Zeit hat, den Patienten anzuschauen, ihm zuzuhören, ihn zu untersuchen und über den Patienten nachzudenken. Dann die richtigen Untersuchungen einzuleiten, um alles mit dem besten Behandlungsplan zusammenzuführen. Also ist Slow Medicine persönlich und basiert auf einer Beziehung zueinander.
Wie beschreiben Sie im Gegensatz dazu „Fast Medicine“, also eine „schnelle“ Medizin?
Das ist der Weg, den Körper als eine Maschine zu sehen und den Arzt als einen Mechaniker, dessen Job es ist, das Fehlerhafte zu finden und zu reparieren. Fast Medicine ist in sehr vielen Situationen sehr hilfreich. Slow Medicine schließt sie nicht aus, sondern nutzt sie als ein Werkzeug, speziell für akute Erkrankungen.
Ist Schnelligkeit das heutige Problem der Medizin?
Nicht Schnelligkeit an sich, sondern die Art, mit den Patienten umzugehen, ist das Problem. Slow Medicine ist im Grunde eine stille und aufmerksame Präsenz. Das unterstützt die Heilung und überhaupt die Gesundheit. Der Stil von schneller Medizin ist im Gegensatz dazu rasend, das bewirkt eher das Gegenteil.
Ist Slow Medicine ein Kontrapunkt zur schnelllebigen Gegenwart? War es nur eine Frage der Zeit, bis sie kam?
Ich würde das gerne mit Ja beantworten, aber es ist nicht der Grund. Ich habe die Exzesse einer schnellen Medizin gesehen, wo jedes menschliche Problem, jede Krankheit als ein mechanischer Zusammenbruch gesehen wird, der mit einer schnellen Lösung wie einer Pille, einer Maschine, einer App oder einem Roboter gelöst werden kann. Es ist nicht nur eine Frage der Zeit, wann Slow Medicine in ein System integriert wird. Wir müssen jeder daran arbeiten, „langsam“ generell als ein allgemein nützliches Konzept für Leben und Sein zu sehen.
Wie können Patienten die beste Medizin bekommen – also Slow und Fast Medicine?
Die Patienten sollten darauf achten, was sie selbst tun könnten, um langsamer zu werden. Sie sollten auf sich selbst und ihre Körper schauen, was sie umgibt und was sie zu sich nehmen. Patienten sollten skeptisch gegenüber allem sein, das als „neu“ und „verbessert“ gilt. Wer einen Arzt braucht, sollte erwarten können, dass dieser genug Zeit für sie aufbringt. Sie sollten auch Verständnis für den Druck haben, unter dem ihr Arzt zweifelsohne steht. Aber als Patient haben sie ebenso das Recht, Fragen zu stellen. Etwa, welche Nebenwirkungen auftreten könnten. Kurz gesagt: Patienten sollten skeptisch sein.
Beinhaltet Slow Medicine, dass Menschen auch damit umgehen lernen müssen, dass nicht alles heil- oder lösbar ist?
Ja, natürlich. Das Leben selbst ist die Krankheit, die wir alle haben und die nicht heilbar ist. Es ist ganz natürlich, dass wir uns über verschiedene Zustände von gesund zu weniger gesund bis hin zu krank bewegen. Auf unserem Weg häufen wir Verletzungen, Schmerzen, chronische oder unheilbare Krankheiten an. Manchmal kann Fast Medicine ganz großartig helfen, sie zu beseitigen oder zu mildern. Slow Medicine kann immer helfen, ganz unabhängig, welche Krankheiten wir haben. Da geht es um Werte wie Zuwendung, Präsenz oder Aufmerksamkeit.
Sie schreiben auch über Geduld und die Notwendigkeit, manches auch gehen zu lassen.
Ich sehe es eher als nicht ungeduldig zu sein. Was könnte Geduld in der Medizin sein? Obwohl es ganz klar viele Fälle gibt, wo wir als Mediziner etwas riskieren und rasch eingreifen müssen – etwa bei Autounfällen, Brustschmerzen oder Krebs – , können wir in vielen Fällen das beste für unsere Patienten tun, indem wir warten und die „Tinktur Zeit“ verwenden.
Mehr wie ein „Gärtner“ als ein „Mechaniker“, wie Sie schreiben? Mechaniker und Gärtner haben verschiedene Arten der Betrachtung und beide sind nützlich. Der Mechaniker schaut, was gebrochen ist, und versucht, es zu reparieren. Der Gärtner tritt zurück und schaut, wie er seinen Garten – oder seinen Patienten – in die bestmögliche Verfassung bringt und ändert so das Lebensumfeld des Patienten.
Wie könnte das Ideal einer kombinierten Fast und Slow Medicine aus Ihrer Sicht ausschauen?
Eine gute Medizin war schon immer eine Mischung aus schnell und langsam. Ein guter Arzt nutzt intuitiv beide als Werkzeuge in seinem Medizinkoffer. Es sind zwei Arten, den Menschen zu betrachten, und zwei Arten, den Körper zu behandeln. Diese beiden Sichtweisen geben uns zwei verschiedene Perspektiven, die eine drei-dimensionale Sicht auf den Patienten ermöglichen – wenn man sie gemeinsam nutzt.
Was gutes Essen und langsame Medizin verbindet
Als der Italiener Carlo Petrini 1989 eine mittlerweile weltweite Bewegung namens Slow Food ins Leben rief, ging es ihm um eine Gegenbewegung zum schnellen Essen, das Produzenten und Lebensmittel kaum würdigt. Es ging ihm darum, den Menschen grundlegende Gegebenheiten wieder bewusst zu machen, etwa dass Nahrungsmittel Zeit brauchen, um zu wachsen. Oder, dass sich ein Augenmerk auf Saisonalität und Regionalität auszahlt.
„Als Slow Food nach Amerika überschwappte, wurde mir klar, dass dabei die Zubereitung als solche in den Mittelpunkt gestellt wurde. Was zählt, ist der Stil, die Art und Weise wie etwas zubereitet wird.“ Diese Vorgangsweise erinnerte Victoria Sweet an ihren Umgang mit ihren Patienten.
Es gehe auch in der medizinischen Behandlung um den Weg, der zum Ziel führt: die „Art und Weise des Tuns“, ein methodisches, unaufgeregtes und unvoreingenommenes Vorgehen. Mit Sweets Worten: „Maßvoll und ausgeglichen“ solle alles ablaufen.
Wie auch Slow Food hat auch Slow Medicine seinen Ursprung in Italien. Erstmals wurde der Begriff in einem medizinischen Fachjournal verwendet. 2011 wurde ebenfalls in Italien die erste Slow Medicine-Gesellschaft gegründet, denen Schwestergesellschaften in anderen Ländern folgten.
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