Psychische Erkrankungen: Jeder Fünfte innerhalb eines Jahres betroffen

Psychologen-Präsidentin Beate Wimmer-Puchinger warnt und fordert mehr Behandlungsangebote.
Experten sehen einen Anstieg der Zahl der Betroffenen und warnen vor großen Lücken bei den Therapieangeboten.

Silvia Ballauf kennt Depression aus eigener Erfahrung und als Leiterin der Selbsthilfe bei „pro mente“: "Die Betroffenen wollen am Anfang die Erkrankung nicht wahrhaben, glauben, sich am Wochenende erholen zu können – aber die Erholung tritt nicht ein. Irgendwann ist dann jede Handbewegung, jeder Schritt ein Gefühl, als würde ich mit 40 Grad Fieber auf einen Berg hinaufgehen.“

Es sei schon ein langer Leidensweg, bis sich viele Betroffene überhaupt trauen, Hilfe in Anspruch zu nehmen. Und wenn es dann noch  lange Wartezeiten auf einen Therapieplatz gebe, sei mit enormen Folgeschäden zu rechnen, schildert Ballauf:  Das sei dann nämlich so, "wie wenn bei einem gebrochenen Fuß der Arzt sagt, die Wartezeit beträgt ein Jahr und ich muss mit meinem Schmerz wieder nach Hause gehen“.

1,2 Millionen Menschen betroffen

Die neuesten Zahlen sind alarmierend: Im Laufe eines Jahres hat jeder fünfte Mensch in Österreich eine psychische Erkrankung wie Depression oder Angststörung, zeigen neue, wissenschaftliche Umfragedaten. Insgesamt sind 1, 2 Millionen Österreicherinnen und Österreicher von einer psychischen Erkrankung betroffen. Die - kassenfinanzierten -Therapieangebote für Betroffene reichen aber nicht aus, beziehungsweise sind in einigen Bereichen wie etwa der klinisch-psychologischen Behandlung nicht vorhanden.

Vor den Folgen warnten jetzt im Vorfeld des Internationalen Tags der psychischen Gesundheit ("World Mental Health Day") der Berufsverband Österreichischer PsychologInnen (BÖP), die Gesellschaft kritischer Psychologen und Psychologinnen (GkPP), die Vereinigung Pioniere der Klinischen Psychologie (PKP) sowie die Österreichische Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychsomatik.

"Seelische Erkrankungen sind - anders als viele andere - leise, still und nicht sichtbar", sagte BÖP-Präsidentin Beate Wimmer-Puchinger am Dienstag bei einer Pressekonferenz in Wien."Daher, so glauben wir, werden sie auch zu wenig gesehen, sind in der Gesundheitspolitik ein wenig unterbelichtet und werden sie nicht wirklich ernst genommen." Und die Zahl der Erkrankungen ist auch steigend.

Dabei könne es keine Gesundheit ohne seelische Gesundheit geben: "Ich kann nicht rasende Kopfschmerzen haben und sagen, sonst geht es mir aber gut. Und ich kann auch nicht unter Trauer leiden und sagen, sonst passt eh alles."

"Nach wie vor ein großes Stigma"

Menschen mit seelischen Erkrankungen hätten öfter auch ein geringeres Einkommen und insgesamt eine geringere Lebensqualität: "Sie haben nicht das Gefühl, ihr Leben steuern zu können und im Griff zu haben. Und es gibt nach wie vor ein großes Stigma."

Depression habe auch ein Geschlecht, betonte Wimmer-Puchinger: "Und das ist weiblich. In sämtlichen Studien weltweit, aber auch in Österreich, zeigt sich, dass Frauen mehr von Depressionen, Essstörungen oder auch Depressionen nach der Geburt betroffen sind."

Es gebe eine große Versorgungslücke: "Dabei gibt es ein starkes Stadt-Land-Gefälle." Und es gebe relativ wenig Wissen in der Bevölkerung: Beides - schelchte Versorgung, mangelndes Wissen - führe dazu, dass psychische Erkrankungen "auch lange nicht erkannt werden".

Die Psychologenverbände fordern einen Auf- und Ausbau der Kassenplätze für Klinische Psychologen, Psychiater und Psychotherapeuten. Der dringendste akute Versorgungsbedarf solle durch die Anerkennung klinisch-psychologischer Behandlung als Kassenleistung gedeckt werden. Langfristig müsse aber die Politik gemeinsam mit den "PSY-Berufen" (Psychiater, Psychotherapeuten, Psychologen) einen "Masterplan: Psychisch gesundes Österreich" erarbeiten.

Auch zu wenig Kassenpsychiater

Kritisch äußerte sich auch Johannes Wancata, Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik: "Vor 10 bis 15 Jahren war es kein Problem, innerhalb kürzester Zeit einen Kassenpsychiater für einen Patienten aus einem Spital zu finden. Heute warten wir häufig zwei, manchmal drei, vier Monate auf einen Kassenplatz. Und wenn Patienten suizidal sind, ist das ohne Kassenplatz wirklich gefährlich.“ Die hingegen, dies sich leisten können, für die finde man einen Platz.

Die Zahl der Kassenplätze für Psychiater müsse deutlich erhöht werden, betont Wancata, denn Österreich liege im internationalen Vergleich zurück: „“Österreich hat 15 Fachärzte für Psychiatrie  pro 100.000 Einwohner, Italien hat 19, Großbritannien 20 und Deutschland 21.“

Psychische Erkrankungen: Jeder Fünfte innerhalb eines Jahres betroffen

Einsatz für bessere Versorgung: Silvia Ballauf, Andrea Birbaumer, Beate Wimmer-Puchinger, Johannes Wancata (v.l.n.r.)

Der Psychologenverband hat auch eine Petition für eine bessere Versorgung von Menschen mit psychischen Erkrankungen gestartet (www.pflasterfuerdieseele.at). Innerhalb von zwei Wochen wurde sie bereits von 8000 Menschen unterzeichnet. Wimmer-Puchinger: „Und mehr als 2000 Menschen haben uns ganz lange Erfahrungsbericht aus ihrem Leben geschildert. Das zeigt, dass hier ein Bedarf ist.“

Armutsfalle auch für Psychologen

"Psychische Erkrankungen sind die neue Armutsfalle", sagte Andrea Birbaumer, Obfrau der Gesellschaft kritischer Psychologen und Psychologinnen. Und dabei spreche sie auch für die jungen Berufskolleginen und -kollegen, "die sich nach dem Studium eine sehr intensive Ausbildung zum klinischen Psychologen antun." Das Problem: "Es gibt keinen Anspruch auf Fachausbildungsstellen - sie müssen sich ihre Ausbildung erst leisten können." Und solange es keine Kassenfinanzierung für die psychologische Behandlung gebe, liege das Potenzial dieser gut ausgebildeten Kolleginnen und Kollegen überhaupt brach.

Gewaltig sind auch die volkswritschaftlichen Kosten: Psychische Erkrankungen und ihre Folgen kosten bis zu 12 Milliarden Euro jährlich - ein großer Teil davon könnte durch eine bessere Prävention und Versorgung eingespart werden.

Und Silvia Ballauch betont: "In den Köpfen ist drinnen, mir passiert es nicht. Aber es kann jeden treffen.“

Hilfe in akuten Krisen finden Sie unter anderem bei der Telefonseelsorge (142) sowie bei Rat auf Draht (147) und online: www.kriseninterventionszentrum.at & www.bittelebe.at.

In Wien gibt es u.a. auch rund um die Uhr die Psychiatrische Soforthilfe als Not- und Krisendienst unter der Rufnummer 01 / 31 330.

Telefonberatung: Durch Zuhören Leben retten

Wie es ist, in seelischen Krisen Erste Hilfe zu leisten

Seit vierzig Jahren gibt es die Psychiatrische Soforthilfe des Psychosozialen Dienstes Wien, eine  unbürokratische Anlaufstelle für Menschen in akuten seelischen Krisen. Wer   01 313 30 wählt, erreicht  zu jeder Tages- und Nachtzeit einen von fünfzig Psychiatern, Psychologen oder Psychotherapeuten. Georg Psota, Facharzt für Psychiatrie, hat mehr als dreißig Jahre Erfahrung in der Akuthilfe und weiß, wie sich die Anfragen verändert haben.

Psychische Erkrankungen: Jeder Fünfte innerhalb eines Jahres betroffen

Georg Psota, 61, ist Chefarzt der Psychosozialen Dienste in Wien.

„Früher haben mehr Menschen mit schweren psychotischen Erkrankungen angerufen, das sind heute weniger, weil die Versorgung besser geworden ist. Dafür melden sich mehr Menschen mit Erkrankungen im Angst- oder Depressionsbereich.“ So wie die Frau, die um drei Uhr Früh anruft, weil sie seit zwei Wochen schlaflos ist. Oder der Mann, der es aufgrund seiner Angstattacken nicht aus dem Haus schafft. Die erste Handlung ist immer gleich: Zuhören, Fragen stellen, Antworten  geben.

„Man macht sich ein Bild davon, was mit dem Menschen am anderen Ende der Leitung los ist. Natürlich gibt es Situationen, in denen man rasch reagieren und vielleicht sogar die Rettung schicken muss“, sagt Psota. Das sind die Fälle, die ihn stets bis weit nach Dienstschluss beschäftigt haben: die, von denen man nicht wusste, wie sie letztlich ausgegangen sind.

Gerade jungen Ärzten und Therapeuten fällt es anfangs schwer, sich abzugrenzen, die nötige Ruhe zu bewahren. „Als junger Arzt hatte ich einmal eine Anruferin mit schwerer Panikattacke und dem Gefühl, verrückt zu werden“, erinnert sich Psota. „Diese Panik kann sich schnell auf einen selbst übertragen. Ich war besorgt, dass ihre Angst berechtigt ist. Zum Glück hatte ich einen Oberarzt im Hintergrund, der mir gesagt hat: ‚Das ist ein klassisches Symptom, rede einfach weiter mit ihr, sie fühlt sich zwar jetzt so, aber sie wird sicher nicht verrückt.‘ Das hat mir Sicherheit gegeben.“ Als es ihr besser ging, sei die Betroffene persönlich vorbeigekommen. „Das sind wirkliche Erfolgserlebnisse.“

 

 

 

 

 

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