Starke Schmerzen, aber keine Diagnose: Hypochonder leiden jahrelang

Etwa sechs Prozent der Bevölkerung leiden unter Krankheitsangst.
Warum oft so viel Zeit vergeht, bis die Krankheit erkannt wird und welche Rolle das Internet dabei spielt.

„Ich kann Ihnen sagen: All Ihre Befunde sind normal. Sie haben nichts, wovor Sie sich fürchten müssen.“ Schon unzählige Male hat Christian R. das von Ärzten gehört. Untersucht wurde er auf vieles: Multiple Sklerose, Herzprobleme, Krebs. Über Jahre hinweg war er überzeugt, dass er schwer krank ist und sterben wird – auch ohne medizinische Diagnose.

Menschen, die unter Krankheitsangst, besser bekannt als Hypochondrie, leiden, fürchten, eine schwere Krankheit zu haben – ohne belastbare Befunde. Bis zu sechs Prozent der Bevölkerung sind betroffen.

„Doctor Shopping“

Die ständigen Sorgen führen bei vielen Betroffenen zum „Doctor Shopping“, dem Aufsuchen wechselnder Ärzte. „Unauffällige Befunde beruhigen nur kurzfristig und führen in einen Teufelskreis mit zunehmenden körperlichen Beschwerden und Ängsten. Hinzu kommt, dass durch häufige Untersuchungen manchmal doch etwas gefunden wird, was Betroffene in ihrer Angst bestätigt“, sagt Michael Ossege, Psychiater an der Abteilung für Sozialpsychiatrie im AKH Wien.

Nach vielen frustrierenden Untersuchungen und Therapieversuchen kommt es zusätzlich zu deprimierter Stimmung, Resignation und Verzweiflung. Ossege: „Es gibt jedoch auch Patienten, die Arztbesuche vermeiden und mit ,Selbstbehandlungen’ versuchen, die oft massiven Beschwerden zu bewältigen. Bis sie in therapeutische Behandlung kommen, vergehen manchmal Jahre.“

Young woman patient with gynecologist in the office

Betroffene sind oft sehr belastet und suchen einen Arzt nach dem anderen auf.

Eigene Spezialambulanz

An der Klinik der Universität zu Köln wurde vor Kurzem eine eigene Spezialambulanz für Krankheitsangst eröffnet (siehe unten). Sie bietet gezielt Beratungs- und Therapiemaßnahmen für Betroffene an. Auch an der Uniklinik Mainz gibt es eine solche Ambulanz. Beide Kliniken begegnen mit den Ambulanzen einer Zunahme an Patienten.

Die zeigt sich auch in Studien: In einer britischen Untersuchung mit 29.000 Krankenhauspatienten, also einer ausgewählten Gruppe, hatten nahezu 20 Prozent Krankheitsangst, vier Jahre zuvor waren es noch 12 Prozent. Erklärt werden diese hohen Zahlen etwa mit dem Internet. Zwar könne das Netz wertvoll sein, um nach den Ursachen medizinischer Symptome zu suchen. Für Menschen mit Krankheitsangst sei es aber bedrohlich, da sie ihre Aufmerksamkeit selektiv auf die schlimmsten Erklärungen von Symptomen richten, selbst wenn diese sehr selten sind, schreibt Studienautor Peter Tyrer vom Centre for Mental Health am Londoner Imperial College.

"Cyberchondrie"

Das Internet fördere „Cyberchondrie“. Hinzu kommt, dass zwar viele Ärzte aufgesucht werden, das Krankheitsbild aber oft nicht erkannt wird. „Natürlich können Ärzte nicht jeden Patienten mit Ängsten zum Psychiater schicken. Es ist aber wichtig, auch psychosoziale Faktoren einzubeziehen, die bei der empfundenen Belastung eine Rolle spielen könnten“, meint Ossege. Im Wiener AKH werden Menschen mit Krankheitsangst an der Psychosomatik-Ambulanz behandelt, eine eigene Spezialambulanz gibt es derzeit nicht. Meist kommen diejenigen, die bereits erkannt haben, dass sie von den Ängsten beherrscht werden.

Ursachen

Die Ursachen der Erkrankung sind nicht eindeutig. Vielen Patienten falle es nicht leicht, über Gefühle zu sprechen und sie zu interpretieren. Sie empfinden ein Herzklopfen nicht als aufgeregt sein, sondern denken zuerst an körperliche Beschwerden. „Die meisten Menschen kennen den Zusammenhang von Gefühlen und körperlichem Erleben, wie Bauchweh bei Ängsten. Gefühle verändern über das Nervensystem und Hormone den ganzen Körper. Warum das bei manchen Menschen so in den Fokus der Aufmerksamkeit gerät, ist oft schwer zu verstehen“, so Ossege.

Meist spielen Gefühle, Gedanken und Erinnerungen an schmerzliche Ereignisse eine Rolle. „Es gibt keinen kausalen Grund krankheitsbezogener Ängste. Bei jedem Patienten muss individuell gesehen werden, welche Erfahrungen er gemacht hat, unter welchen Konflikten er leidet“, sagt Experte Ossege.

Ein Beispiel: Bei einem Patienten stellte sich heraus, dass er den Tod des Vaters als extrem emotionalen Schmerz erlebte, zu dem Zeitpunkt aber keine Zeit hatte, den Schmerz als solchen zu empfinden. Erst Jahre später entwickelte sich die Krankheitsangst. In der Therapie kam die Erinnerung an den Tod des Vaters hoch. Erst die Aufarbeitung minderte die Ängste.

Stationär aufgenommen

Die Behandlung erfolgt meist in einem sogenannten Turnus. Die Patienten sind über sieben bis acht Wochen stationär aufgenommen und erhalten unterschiedliche Therapien, etwa Gesprächs- oder Musiktherapie. „Es gibt Patienten, die sich von ihren Ängsten ,verabschieden’ können, sie können aber auch wiederkommen. Ängste gehören zum Leben, Angstfreiheit ist kein Ziel der Therapie“, sagt Ossege.

Schwierige Diagnose

Krankheitsangst liegt vor, wenn die unbegründete Angst, an einer schweren Krankheit zu leiden, mindestens sechs Monate anhält. Die Gedanken kreisen  ständig um Schmerzen oder Krankheiten, häufig solche, von denen im Internet oder im Fernsehen etwas aufgeschnappt wurde. Der Leidensdruck ist oft groß, vermeintlich gefährliche Tätigkeiten werden zunehmend vermieden. Das Ausmaß der Belastung kann sehr unterschiedlich sein und reicht von leichten Einschränkungen bis hin zu Arbeitsunfähigkeit.

Gütesiegel für Gesundheitsinfos

Menschen mit Krankheitsangst aber auch Nicht-Betroffene stoßen im Internet oft auf falsche Quellen für Gesundheitsinformationen. Wer Dr. Google befragt, sollte daher auf Websites auf Gütesiegel oder Zertifikate achten. Anerkannt ist das Gütesiegel der Health on Net Foundation (HONCode) sowie das Zertifikat „The Information Standard“.

Interview zu neuer Spezialambulanz: "Alle Therapieplätze sind ausgelastet"

Psychotherapeut Alexander Gerlach arbeitet an der neuen Spezialambulanz für Hypochondrie an der Universitätsklinik Köln.

Starke Schmerzen, aber keine Diagnose: Hypochonder leiden jahrelang

KURIER: Wie wird die Hypochondrie-Ambulanz angenommen?
Alexander Gerlach: Nach der Eröffnung gab es ein erhöhtes Patientenaufkommen, sodass unsere Krankheitsangstsprechstunde ausgelastet war. In unserer erstmals angebotenen kombinierten Gruppen- und Einzeltherapie sind alle Therapieplätze ausgelastet.

Wie lange dauert es im Schnitt, bis Betroffene eine Therapie erhalten?
In der Regel hat sich Krankheitsangst über viele Jahre chronifiziert. In einer Mainzer Untersuchung waren es beispielsweise im Durchschnitt elf Jahre. Bei unseren Patienten scheint sich dieses Bild zu bestätigen, viele sind in einem Lebensalter zwischen Anfang vierzig und Mitte sechzig und kennen Krankheitsängste schon seitdem sie junge Erwachsene sind.

Was bräuchte es, damit diese Zeitspanne kürzer wird?
Unserer Meinung nach ist die Entstigmatisierung der Erkrankung von großer Bedeutung. Wenn im öffentlichen Bewusstsein ankommt, dass Krankheitsängste nicht mit Einbildung, sich in etwas hineinzusteigern oder „verrückt zu sein“ gleichzusetzen sind, wäre die Hürde für Betroffene geringer.

Sollten Ärzte besser ausgebildet werden, um Betroffene zu erkennen?
Wenn Ärzte  gut geschult sind und Patienten mit Krankheitsangst erkennen und weitervermitteln, ist das natürlich förderlich. Aber da die Patienten teilweise sehr häufig den Arzt wechseln, ist das nicht immer einfach. Generell würden Menschen mit Krankheitsängsten, genau wie Betroffene anderer psychischer Störungen, von einer verbesserten psychotherapeutischen Versorgungslage profitieren. Dass wir in unserer Spezialambulanz beratende Erstgespräche innerhalb von wenigen Wochen oder teilweise Tagen vermitteln können, ist leider nicht repräsentativ für die Versorgungssituation in Deutschland.

Wie sieht die optimale Therapie aus? Wie häufig sind Rückfälle?
Die kognitive Verhaltenstherapie hat sich mit hohen durchschnittlichen Effekten zu Therapieende als sehr wirksam erwiesen. Allerdings könnte es noch mehr Studien geben, in denen ihre Wirksamkeit jener anderer therapeutischer Verfahren unter kontrollierten Bedingungen gegenübergestellt wird. Zwei Drittel der Patienten verbessern sich klinisch stark. Auch gibt es noch großes Potenzial die langfristige Wirksamkeit zu verbessern. Die Effekte nehmen über die Zeit hinweg häufig ab. Bei etwa 50 bis 70 Prozent der Patienten bleibt auch nach erfolgreicher Therapie eine Restsymptomatik bestehen.

Hypochondrie nimmt zu

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