Adipositas: „Niemand sucht sich das freiwillig aus“
Karin Schindler ist Ernährungswissenschafterin und Abteilungsleiterin im Gesundheitsministerium. Davor hat sie jahrelang Menschen mit starkem Übergewicht an der MedUni Wien / AKH Wien vor und nach einem chirurgischen Eingriff zur Gewichtsabnahme beraten und begleitet.
Der 11.10. ist der Welt-Adipositas-Tag. Wann spricht man von Fettleibigkeit bzw. Adipositas?
Die Weltgesundheitsorganisation WHO spricht von Übergewicht ab einem BMI von 25 kg/m²; von Adipositas ab einem BMI von 30 kg/m² (der BMI wird berechnet, indem man das Gewicht durch das Quadrat der Größe in Meter teilt, kg/m²). Laut Ernährungsbericht 2017 sind 41 % der erwachsenen Bevölkerung übergewichtig (28,9 %) oder adipös (12,1 %).
Was löst Adipositas aus und fördert sie?
Meist ein Zusammenspiel mehrerer Faktoren: Erbanlagen (genetische Disposition), Lebensgewohnheiten (falsche Ernährung, Bewegungsmangel) aber auch seelischen Faktoren wie Stress, Einsamkeit oder Depression und Essen als Belohnungsfaktor. Eine große Rolle spielt die Umwelt, die ständige Verfügbarkeit von Essen an jeder Straßenecke und fehlende positive Vorbilder. Man kann nicht immer nur sagen, man müsse einfach weniger essen um normalgewichtig zu werden. Es ist komplexer.
Wie kann man Adipositas vorbeugen?
Auf persönlicher Ebene sind Vorbilder bei Ernährung und Bewegung wichtig. In- und außerhalb von Schulen braucht es mehr Bewegungsangebote. In „Wasserschulen“ gibt es keine zuckerhältigen Getränke mehr. Das Gesundheitsministerium arbeitet mit der Lebensmittelindustrie daran, den Zuckergehalt in Milchprodukten, Getränken und Cerealien zu senken.
Hat Adipositas mit Willensschwäche zu tun?
Nein, es ist keine Frage des Willens und der Motivation. Den starken Anstieg der Zahl adipöser Menschen kann man nicht mit plötzlich fehlendem Willen erklären, es sind vielmehr die Veränderungen der Umwelt der entscheidende Faktor. Adipositas ist auch nichts, was man sich freiwillig aussucht. Jemandem zu sagen „du bist zu dick, iss nicht so viel“ bringt deshalb gar nichts – das stigmatisiert die Betroffenen nur und kann dazu führen, dass sie noch mehr essen und sich zurückziehen. Vielmehr braucht es einen sensiblen Umgang und unterstützende Beratungs- und Begleitungsangebote.
Was bringen Diäten?
Ich habe in meiner Beratung adipöser Menschen immer wieder diesen Satz gehört: „Ich habe schon so viele Diäten probiert, aber danach immer wieder zugenommen.“ Es geht darum, langsam, Schritt für Schritt, den Lebensstil zu verändern.
Wem hilft ein chirurgischer Eingriff?
Eine Verkleinerung des Magens oder eine Verkleinerung des Mageneingangs wird nur bei starker Adipositas mit einem BMI über 40 oder einem BMI über 35 und zusätzlich Begleiterkrankungen wie Typ-2-Diabetes durchgeführt. Davor sollten herkömmliche Abnehmversuche durchgeführt worden sein.
Ein chirurgischer Eingriff ist sehr effektiv, bedeutet aber auch einen starken, dauerhaften Eingriff in den Lebensstil: Man kann nur mehr kleine Portionen essen – langsam und sehr gut gekaut. Die Lebensmittelauswahl muss so angepasst werden, dass auch mit kleinen Portionen die Nährstoffaufnahme möglichst vielfältig ist. Trotzdem sind in der Regel zusätzlich lebenslang Vitaminpräparate notwendig.
Dr. Karin Schindler am Telefon ( 01 / 526 57 60): Fr., 11. 10., 9–10 Uhr; eMail: gesundheitscoach@kurier.at
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