Wenn der Kochtopf daheim zum Reiseleiter wird
Durchs Essen kommen die Leut’ zusammen: G’standene Köchinnen aus Österreich blicken gebannt auf die flinken Finger von Ahsen Celik, die in wenigen Minuten Dutzende „Manti“ füllen. In kleine Teigfleckerln kommt jeweils ein winziger Tupf Fülle aus gewürztem Faschiertem. Ein wenig erinnern diese türkischen Nudeltascherln an Mini-Tortellini. Spätestens jetzt juckt es die küchentechnisch Versierteren im „Futurefoodstudio“ der Ernährungsberaterin Hanni Rützler in den Fingern. Etwas ungelenk zuerst, aber mit Hingabe drücken sie die befüllten Teigfleckerln an allen vier Ecken zusammen. „Eigentlich schauen sie aus wie das Himmel-und-Hölle-Spiel“, meint eine. Mit viel Gruppendynamik macht die spontane Manti-Produktion Spaß. Aber wer würde sich diese doch etwas aufwendige Arbeit in der eigenen Küche antun?
Ahsen Celik zum Beispiel. Und zwar regelmäßig. „Ich mache sie heute noch genau so, wie ich es als Mädchen von meiner Großmutter in der Türkei gelernt habe.“ Die fünffache Mutter lebt schon seit Jahrzehnten in Wien, aber Fertigprodukte oder moderne Helfer kommen ihr beim traditionellen Festtagsessen nicht ins Haus.
Geschmack der Heimat
Das charakteristischste Merkmal der türkischen Küche ist ihre Vielfalt. Dafür liefern Ahsen Celik und ihre Nachbarin Betül Kahraman beim Brainkitchen-Dinner auch praktisch den Beweis. Der Tisch biegt sich, als sie neben den Manti verschiedene Vorspeisen, Eintöpfe, Salate und Saucen auftragen.
Lernen über den Gaumen
Wohl noch mehr als in der Heimat gilt Essen für türkische Migranten nicht nur der Befriedigung eines körperlichen Bedürfnisses. Mehr als im in Österreich üblichen Kleinfamilienverband wird der Begriff „Familie“ viel weiter gefasst. Wolfgang Reiter resümiert: „Neue Geschmäcker zu akzeptieren ist leichter, als die Sitten, die damit oft verbunden sind. Wenn man die Hintergründe kennt, versteht man besser, dass man sich mit mehreren Kindern, 27 Enkeln und 14 Urenkeln nicht einfach so am Balkon zum Grillen treffen kann.“
Das Typische an der türkischen Küche ist selbst für die Gisela Procháska-Eisl, Turkulogin an der Universität Wien, nicht leicht festzumachen. „Das Typische ist eigentlich, dass es nichts Typisches gibt.“ Eines lasse sich allerdings ganz klar sagen: „Sie ist sicher eine der besten Küchen der Welt.“ Und: „Es sind immer viele verschiedene Speisen am Tisch.“
Drei Faktoren sind jedenfalls aus kulturwissenschaftlicher Sicht immer nötig, damit sich überhaupt so etwas wie eine Küchentradition entwickeln kann, erläutert die Expertin: Die geografische Lage ist ein ganz wesentlicher Aspekt und die Voraussetzungen waren gut: „Die Türkei ist ja landschaftlich sehr vielfältig. Das fruchtbare Klima ermöglicht Getreide- und Obstanbau sowie Tierzucht. Und vom Schwarzen Meer kommt Fisch dazu.“ Bedeutend für die Entwicklung einer Küche ist auch zeitliche Kontinuität einer Kultur – im Fall der Türkei die jahrhundertelange Existenz des Osmanischen Reichs.
Dritter Faktor: die Existenz einer sogenannten Hochküche, die vor allem von den gesellschaftlich besser Gestellten getragen wurde. Hier reihen sich die türkischen Gaumenfreuden nahtlos in die große Kulturgeschichte ein. „Wir kennen diese Entwicklung auch aus China oder Frankreich, wo sich ebenso große Küchenkulturen entwickelt haben“, erklärt Procháska. Im Osmanischen Reich entstand aus der Küche der Sultanspaläste eine derartige Hochküche. Mit entsprechendem Stellenwert: „Es gab Zeiten, da waren im Palast bis zu 1500 Köche beschäftigt.“ Vieles, das damals entstand, sei in die allgemeine Küche eingeflossen.
Dazu kommen religiöse Regeln, die sich zum Teil auf die Küche niedergeschlagen haben. Im Islam ist etwa Schweinefleisch verboten, Fleisch muss generell „halal“ sein. Das heißt, das Fleisch muss total ausbluten, um als rein zu gelten.
Historische Irritation
Die Eigenständigkeit der Osmanen sorgte bei vielen europäischen Reisenden für Aufsehen, das dokumentieren Reiseberichte aus dem 17. und 18. Jahrhundert. „Es gab keine Speisenfolge. Entweder wurde alles auf ein Mal serviert oder durcheinander. Europäische Reisende waren irritiert, dass nach dem Konfekt die Suppe kam.“
Traditionelles Festtagsmenü: Ahsen Celik und Tochter Betül kochen am 14. März (18 bis 21 Uhr) im Wiener Futurefood-Studio auf (16., Brunnengasse 17, 72 €, Anmeldung unter ganser@futurefoodstudio.at). Dazu erzählt Turkulogin Gisela Procháska-Eisl Kulturgeschichtliches und Wolfgang Reiter liest aus türkischer und kurdischer Literatur; Musik von Selen Irez und Alp Bora.
Buchtipps:„Es gibt kaum türkische Literatur, bei der es nicht ums Essen geht“, sagt Kulturwissenschaftler Wolfgang Reiter. Orhan Pamuk beschreibt etwa in „Cevdet und seine Söhne“ (Hanser-Verlag) eine türkische Großfamilie beim Essen anno 1904.
Moderner hingegen Baris Bicakci in „Unsere große Verzweiflung“ (binoki-Verlag): Eine junge Frau „bricht“ in eine kochende Männer-WG ein und bringt sie durcheinander.
Konflikte zwischen Kurden und Türken zeigt Ayse Kulin in „Der schmale Pfad“ (Unionsverlag) auf. Ein türkisches und ein kurdisches Mädchen streiten über Essen am Tisch oder am Boden – und werden Freundinnen.
Sinnlich kommt Elif Shakafs „Der Bastard von Istanbul“ (Eichborn-Verlag) daher. Die Kapitelnamen sind die Zutaten einer beliebten türkischen Nachspeise.
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