Beim Anblick schwimmender Insekten in der Schüssel kommt die Gänsehaut. Für den ersten Löffel erwische ich eine lange Larve der schwarzen Soldatenfliege. Zu lang für den ersten Bissen. Ein zweiter Anlauf, diesmal mit mehr Müsli auf dem Löffel. Der Bissen schmeckt recht ordentlich – Müsli halt. Süßlich und ein seltsamer Beigeschmack. Bin ich nicht der Müsli-Typ oder nicht der Larven-Typ? Eine Larve solo am Löffel soll die Geschmacksverwirrung aufklären. Insekten-Kenner beschreiben jene toten Tierchen am ehesten mit gerösteten Erdnüssen. Lieber wäre mir der Geschmack von Walnüssen, aber mit Erdnuss-Aromen am Gaumen könnte ich gut leben. Es knackt zwischen den Zähnen als würde ich auf eine trockene Linsenhülle beißen. Ein rauchiger, schwefliger Nachgeschmack macht sich breit. Die Aromen steigen aufdringlich in die Nase.
Journalisten stellen Food-Forschern wie Hanni Rützler gerne großspurig Fragen über die Zukunft der Ernährung. Als viel schwieriger erweist sich, selber einen Löffel mit der Zukunftsnahrung zu probieren. Angesichts der wachsenden Weltbevölkerung, der Nahrungsmittelknappheit, der Klimaerwärmung und der Massentierhaltung braucht es eine preiswerte und schnell wachsende Eiweißquelle. Laut UNO erfüllen Insekten solche Parameter. Klingt logisch, wäre da nicht unsere Esskultur: Kleine krabbelnde Tiere gehören nicht auf unsere Teller.
Katharina Unger (23) bezeichnet sich als "Allesesserin". Die studierte Industriedesignerin entwickelte für ihr Diplom an der Angewandten einen Insektenbrutkasten für die Aufzucht in den eigenen vier Wänden. Die Farm 432 soll den Hunger auf Eiweiß in den eigenen vier Wänden stillen. Rund 500 Gramm Larven lassen sich mit dem Gerät pro Woche "ernten". Als mögliches "Einstiegsinsekt" für den europäischen Gaumen bezeichnen sie Heuschrecken: "Sie sind optisch am wenigsten gewöhnungsbedürftig und geschmacklich durchaus mit Shrimps vergleichbar", erzählt Katharina Unger. Nach zahlreichen Versuchen entschied sie sich mit ihrer Geschäftspartnerin Julia Kaisinger (26) aber für die Larven der schwarzen Soldatenfliege, denn im ausgewachsenen Stadium leben die Fliegen rund acht Tage und brauchen nur Wasser. Die Larven ernähren sich von toten organischen Substanzen (saprophag).
Der Zyklus funktioniert so: Der Kunde erhält das Gerät mit Eiern und Larven in verschiedenen Entwicklungsstadien. In die oberste Box des Geräts kommen die Puppen. Aus diesen Puppen schlüpfen die Fliegen, die in den Glaskörper des Geräts fliegen. Dort haben sie ein wenig Wasser, Nahrung brauchen sie ja nicht. Und nun beginnen sie, Eier zu legen, aus denen neue Larven entstehen. Als Futter eignet sich der hauseigene Gemüseabfall. Gern auch Bio. Nach zwei Wochen suchen die Larven einen warmen Ort und klettern im Gerät die Rampe hinauf, um sich zu verpuppen. Dabei fallen sie in eine Schublade und können "geerntet" werden. Einen Teil isst der Gourmet, den anderen Teil setzt er in den oberen Teil und der Zyklus startet von Neuem – ein geschlossener Kreislauf des Lebens.
Nach dem "Ernten" waschen Unger und Kaisinger die Larven und frieren sie ein, um sie zu töten. Nun kommt der kulinarische Teil: Kochen, rösten, backen. Die Industriedesignerinnen wollen, dass die Industrieländer mit der Wohnzimmer-Farm ein Zeichen setzen und mit gutem Beispiel vorangehen. Ihr gemeinsamesDesignstudio Livinarbeitet bereits mit einer Forschergruppe an der Marktreife ihrer Insekten-Farm. Auch eine amerikanische Firma zeigt sich an dem fertigen Müsli interessiert.
Nie könnte ich das Müsli aufessen, ich lasse meine Kollegen kosten. Sie erweisen sich als mutiger und zögern nicht. Ernst urteilt trocken: "Bitter im Abgang." Christina glaubt ganz ohne Blasphemie und Sarkasmus, den Geschmack von "Hostien" wieder zu erkennen. Martin widerspricht: "Whiskey." Eine Viertel Stunde nach der Verkostung glaube ich, dass eine Larve im Hals stecken geblieben ist. Sonst geht es mir gut. Zumindest besser als den Larven in meinem Müsli.
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