Wolkenkuckucksheim

Irlands größtes Naturwunder: Giant’s Causeway, der „Damm des Riesen“. Der Legende nach: „Finn MacCools Fußweg nach Schottland.“ Den Geologen nach: „Ein Vulkanausbruch vor etwa 60 Millionen Jahren.“
„Iren sitzen gerne in der Landschaft und denken nach“, sagt Rosa. Sie möchte dort leben. Also ein Besuch. Wie ein wilder Flirt. Mit Wind, Wellen, Wolken. Dem hellsten Grün der Hoffnung, dem dunkelsten der Dämonie.
Von Ro Raftl

Was geblieben ist? Scharfgestellt: Der melancholische Blick eines majestätischen Ochsen unter zwanzig gefleckten Kühen auf immergrüner Wiese im Milch- und Butterland von Kerry Gold ...
Das ungelöste Rätsel, ob es helle Steine oder schlafende Schafe waren, an denen man grad vorbeigefahren ist ...
Der ungestüm tanzende Wind, kalt-warm-kalt; die gischtigen Wellen um nackte Felsklippen, sanft-brüllend-sanft; das fette Weiß und das kalte Schwarz zu allen Nuancen Grau gefiedert, geplustert, verweht. In den Wolkenlandschaften, die man stundenlang betrachten kann, wonach man ein bisschen von der irischen Seele versteht.

Das Hochkreuz in Kilfenora. Ja. Ein Liebesblitz. Weniger archaisch als die Gesichter von Lusty Man und seines androgynen Kollegen aus dem 5./6. Jahrhundert auf dem Caldragh Cemetery von Boa Island. Weniger kunstvoll motivreich gemeißelt als das Muiredach’s Cross aus dem10. Jahrhundert in Monasterboice, als keltische Welt und christlicher Glauben ineinander verschlangen. Doch. Der Zyklopenkopf mit den hinreißenden Abstehohren, der erst nah besehen die Nase als eigentliches Bischofsbild enthüllt, als St. Fachtna um 590, einen so heiligen Mann, dass Vögel auf seinen Schultern Platz genommen haben, fesselt wie die Verheißung auf mehr.
Die Ortsnamen Ballygally und Tralee. Der eine Ort mit einem imposanten Schloss in Nordirland, der andere die Hauptstadt Kerrys mit dem Festival Die Rose von Tralee. Beide klingen wie irische Musik.
Der Tee-Shop am Friedhof von Drumcliff in der Provinz Sligo, randvoll mit Souvenirs an den Dichter William Butler Yeats. Sein Grabspruch Reiter, schau kalt / Auf Leben, auf Tod. / Mach hier nicht halt! klingt nicht danach, als hätte er gerne soviel Fanwirbel gehabt. Auf dem Inselchen Innisfree – I will arise and go now, and go to Innisfree ..., wie der Poet (auf YouTube) singsangt –, soll er oft „im blühenden Heidekraut gelegen und vom einfachen Leben geträumt haben“, schreibt DIE ZEIT.
Der kleine Schauder zwischen blühenden Hecken auf den Straßen zwischen Belfast und Derry: Misstraue der Idylle! Vor dem Karfreitagsabkommen 1998, seit dem Nordirland von einer Art Allparteienregierung verwaltet wird, hatten sich Schützen hinter dem Dickicht hellrot wippender Fuchsienköpfchen versteckt. Ach. Unschuldsvolle Träume sind nur unter anmutigem Blassgrün mit irrlichternden Sonnenflecken erlaubt – unter den Hecken, die auf schmalen Wegen zu luftigen Tunnels zusammenwachsen. Die luxuriösen Wälder des violetten Rhododendron indes: so schön und so böse! Ausgewildert, fühlt sich das Mittelmeergewächs in den – letzten – irischen Eichenwäldern besonders wohl. Und erstickt sie.
Die wunderbare Weisheit eines Zeitungsspruchs, die der deutsche Nobelpreisträger Heinrich Böll in seinem Irischen Tagebuch notiert hat: „Die Friedhöfe liegen voller Menschen, ohne die die Welt nicht leben konnte“. Erklärt: „... später erschien sie mir wie der Schlüssel zu dieser merkwürdigen Mischung aus Leidenschaft und Gleichmut, zu jener wilden Müdigkeit, mit Fanatismus gekoppelten Wurschtigkeit, der ich oft begegnen sollte.“ Als aufstrebender Schriftsteller hat Böll Irland bereist, ein Cottage in Keel auf Achill Island bewohnt, schon damals der Vergänglichkeit „seines“ Irland bewusst: „Wer ... es nicht findet, hat keine Ersatzansprüche an den Autor.“

Jedem das Seine. Alles da. Für den Angler, den Reiter, den Golfer, den Radfahrer, den Wanderer. Surfschulen – für Anfänger an der windarmen Ostküste, für Könner auf Viermeterwellen im windigen Westen. Für den Voyeur: Im Titanic Belfast, dem Museum zur Schiffskatastrophe auf dem früheren Werftgelände von Harland & Wolff, mit silberner, Eisberg simulierender Aluminiumfassade, die mit 38 Meter-Zacken in den Himmel kragt. So hoch wie der Bug der Titanic. Die ganze Welt, so scheint’s, will den Bau, den Stapellauf, den Untergang des Unglücksschiffs virtuell nacherleben. Erst geht’s durch das Belfast der Jahrhundertwende, fabelhaft dokumentiert, doch richtig gestürmt wird die Bahn, die Action verspricht, funkensprühenden Höllenlärm bei den Schweißern & Schmieden & Hacklern, erlesene Elegance in den Kabinen und Salons der „besseren“ Gesellschaft, aufgeregte Morsezeichen, flackerndes Licht beim Absaufen des Schiffs auf seiner Jungfernfahrt nach New York – mit mehr als 1.500 Toten. Decouvrierend die letzten Funksprüche und die Erinnerungen überlebender Passagiere. Danach. Verweilen Ladies länger bei der Aufbereitung der Verfilmungen – Schluchz. Die Doku über den Entdecker des Wracks Robert D. Ballard bei seiner Expedition auf dem Meeresgrund exerzieren nur noch Hartgesottene. Frische Luft!
A cup of tea. Als Teetrinkernation führt Irland weltweit, sagt die Statistik. Selbst wenn der Brauch des High Tea, auf ösisch „der Jausen“ mit Schinken, Ei, Kuchen, vielleicht einem kleinen Steak, abhanden kommt. Also. Zumindest den Geschmack eines Scones, dem simplen Backpulver-Allzeitgebäck mit Rosinen, Nüssen, gefüllt oder ohne – doch dann mit Butter sowie Marmelade zu essen. Cheesecake. Selten natur, meist schrillbunt je nach seinem Obst-Oberteil. Auch so ein National-Dessert, für das Wettbewerbe veranstaltet werden könnten. Ein Bier.

In der Kathedrale der Pubs in Belfast, dem Crown Liquor Saloon gegenüber der Oper: Brokattapeten, Buntglasfenster, Fliesenmosaike, Beichtstühle. 1885 etabliert, unter Denkmalschutz. Hm, seltsam wirkt nur der Fernsehapparat. Aber Durst! Ladies ordern a half pint of ... Stout wahrscheinlich, das dunkle, fest und elfenbeinfarben schäumende Porter von Guinness wahrscheinlich. Wenn man schon den Puls der Legende fühlt: Der Brauerei-Palast in Dublin gerät zum Wallfahrtsort. Wobei, traurig, traurig, green youngsters zusehends alk-armes Lagerbier vorziehen. Mittendrin liegt das Ale, Smithwick’s etwa, dunkelorange, spritzig und leicht säuerlich. Und. Halleluja! Über das Angebot an organic food, an regionalen Produkten ist nicht zu klagen. Weder im Supermarkt noch in Tankstellenshops. Selbst wenn’s mit dem Wohlstand der Tigerjahre durch die Finanzkrise 2008, als der Staat die Schulden seiner Banken übernehmen musste, vorbei ist. An feines Futter gewöhnt man sich. Vorbei der Aufholbedarf, bei dem’s hauptsächlich ums Sattwerden ging, nach dem großen Hunger, als der Sporenpilz Phytophthora infestans, kurz die Kartoffelfäule, zwischen 1845 und 1849 fünf aufeinander folgende Ernten vernichtete, ein Million Hungertote unter den Armen zur Folge hatte und eine gigantische Auswanderungswelle in die USA: Die (britischen) Grundherren fuhren derweil prächtige Weizenernten ein, die sie aber lieber exportierten. Rache kann warten, so lange es Flüsse gibt: Viele amerikanische Emigranten unterstützten später die Irish Republican Army, die IRA.
Jetzt heißt der Slogan Good Food Ireland: Produzenten, Feinkostläden, Restaurants vermarkten Irland für die Gourmets der Stunde. Dass man den Teller auslecken möcht, nach dem Irish-Stew von Niall McKenna im Michelin-Bib Gourmand ausgezeichneten Belfaster St. James Street Bar & Grill, wundert nicht, doch – schwöre ! – nie hab ich bessere Muscheln in Weißwein gegessen als bei Paddy, im Tí Linn Café des Slieve League Cliffs Centers, halbwegs bergab unter diesen Klippen mit den Foto-Foto-und-Noch-ein-Foto-Ausblicken auf Land und Meer. Slieve League, die zweithöchsten Klippen Irlands liegen Belfast gegenüber, an der Südwestküste Donegals, und sind nur eines der Naturwunder, die in Reiseführern als „atemberaubend“ beschrieben werden.
Im Westen klippt sich das Land an mehreren Stellen malerisch in den Atlantik. Liegen die allerhöchsten Klippen auf Achill Island, sind die Cliffs of Moher, bisschen weiter südlich, zumindest so viele Fotoklicks wert. Reichlich Gehen ist angesagt, tja, Irland ist ein Wanderparadies, doch: Am Giant’s Causeway, ziemlich an der Nordspitze, wird die Blase im Schuh auf einem in großen Bögen gewundenen steinigen Weg zwischen Berghängen aus Urgestein hinunter zum Meer nach der allerletzten Felsspitze durch eine grandiose Überraschung aufgewogen: 38.000 sechseckige Basaltsäulen ragen auf wie Wolkenkratzer, liegen abgeplattet wie Schildkrötenpanzer da. Rötlich, bräunlich grüngrau, gepeitscht von schäumender Gischt, tiefblauen Wellen, die Sonne scheint und der Stechginster wildert gelb am Hang. Science Fiction, in der nur der Drache fehlt? Die geologische Wahrheit: Glühendes Vulkangestein wurde vor 60 Millionen Jahren durch die Abkühlung in die Säulenform gepresst. Legendenträchtig, klar, in zahllosen (Kinder-) büchern, Zeichnungen, Comics, Videos ausgeschlachtet: Der Riese Finn MacCool soll sich eine Brücke nach Schottland gebaut haben, um dort seinem Widersacher Benandonner heimzuleuchten.
Das war natürlich noch, bevor St. Patrick, der Nationalheilige Irlands, missioniert und vermutlich den gesamten Norden bekehrt hat. Und ja, natürlich hat man das Book of Kells, dieses Wunderwerk klösterlicher Buchmalerkunst im Trinity College in Dublin gesehen. Doch vorm Einschlafen erzählen sich wilde Weiber auf den dunkelwarmen Lederpölstern im O’Neills Victorian Pub ums Eck von der Grafton Street, wo sie in Wein und Irish Whiskey investieren statt ins halb so billige Bier, lieber Mythen wilder Weiber. Von der vorchristlich keltischen Königin Maeve of Connacht, ehrgeizig bis zum Mord, kriegerisch speerbewehrt auf dem Schlachtfeld, listig erprobt im Druidenzauber und von ungeheurem sexuellen Appetit. Wie Grace O’Malley, Piratin und Clanchefin in County Mayo im 16. Jahrhundert – als sich irische Frauen scheiden lassen konnten, ihren eigenen Namen behalten, Alkohol trinken und Politik machen. Als Tochter eines der Big Chiefs, die „Zölle“ von allen Schiffen erhoben, die vor Connemara kreuzten, kommandierte Grace bald ihr eigenes Schiff. Als sie die Engländer gefangen nahmen und nach Galway transportierten, hat sie ihr ältester Sohn dort wieder befreit. Bis ihr Jüngster in Geiselhaft kam: Da segelte die Piraten-Queen nach London und bat Elizabeth I. um Gnade. Die Damen mussten lateinisch parlieren, da die eine nicht Gälisch, die andere nicht Englisch sprach – und einigten sich dahingehend, dass Grace, auch schon 63, nur noch die Feinde Englands attackieren werde.

Solche Geschichten erzählt Rosa, Reiseleiterin bei Kneissl-Touristik. Und mehr. Zu schön, zu viel, zu groß für einen Schnupperkurs.
Was bleibt? Vorhaben, die Jahre füllen könnten. Mehr von Dublin zu sehen, als die St. Patricks Cathedral, das Nationalmuseum, die Samuel-Beckett-Bridge von Calatrava über den Liffey, Temple-Bar, das patente Fischweib Molly Malone, die bunten prunkvollen Eingangstüren an den georgianischen Backsteinhäusern und die Shoppings-Malls, die günstigere auf der O’Connell-, die exklusivere auf der Grafton Street. Also. Eine Woche, vielleicht zu Blooms Day am 16. Juni, den Wegen von James Joyces Kopfgeburt Leopold Bloom im Ulysses zu folgen. In Derry, wie die Katholiken sagen/ Londonderry, wenn’s nach den Protestanten geht, nicht nur die Murals anschauen, die ihre Gegensätze im Spiegel der Weltpolitik an die Wand malen, auch den Guerillakrieg der IRA vorort zu erinnern. Endlich den Film Quiet Man anzusehen, John Fords Irland-Epos mit John Wayne und der Hollywood-Irin Maureen O’Hara, auf den sich die idyllische Kleinstadt Cong – trotz Abteiruine aus dem 12. Jahrhundert und neugotischem Schloss mit romantischem Park – an allen Ecken und Enden für den Ansturm aus Amerika bezieht. Versuchen, den Ring of Kerry nicht bei Regen graugrün zu sehen. Und. Auf einem Hausboot den Shannon entlangzudümpeln, die Bücher von Oscar Wilde, Bernard Shaw, Sean O’Casey, Frank McCourt im Gepäck. Aber in Wahrheit, um in die Landschaft zu schauen und nachzudenken.

HINKOMMEN
Wien-Dublin, nonstop mit Air Lingus ab Schwechat, Ryanair ab Bratislava, Flugzeit: 2.30.

Als Schnupperkurs:
Kneissl-Touristik
www.kneissltouristik.at

AUSSCHLAFEN
Dublin: Hotel Maldron Cardiff Lane, Sir John Rogerson’s Quay, info.cardifflane@maldronhotels.com

Luxus im Westen: Ashford Castle, Cong, County Mayo Ireland F31 CA48
reservations@ashfordcastle.com

Nordirland: „The Londonderry Arms Hotel“ - für Winston Churchill-Fans im Norden. 20 Harbour Road, Carnlough Co. Antrim BT440EU. Ida@glensofantrim.com

GUINNESS TRINKEN
Brazen Head, Dublins ältestes Pub. James Joyce lobte das Barfood. Bridge Street, www.brazenhead.com

The Bailey, Charlie Chaplin oder Brendan Behan tranken hier. Dublin, 2 Duke Street, www.baileybarcafe.com

WANDERN
Giant’s Causeway, klassisch (wie Cheesecake): Eine gute Stunde über die Chimney Tops. Hamilton Seat ist der beste Aussichtspunkt der Nordküste.

Connemara National Park, kinderfreundliche Wege, vom Visitor Center (rund 2 Stunden) auf den Diamond Hill, www.connemaranationalpark.ie

Slieve League, Gratwanderung neben dem Abgrund, etwa fünf Stunden, mittelschwer, nur bei Schönwetter zu empfehlen – prächtige Aussichten!

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