Du Zeit der Nebel
Dass Herbst die ideale Jahreszeit für einen Besuch dieser Gegend ist, wusste bereits der englische Dichter John Keats. Ihn hat die herbstliche Kathedrale Winchesters vor 200 Jahren zu einem seiner berühmten Gedichte inspiriert: Du Zeit der Nebel und der reifen Fruchtbarkeit / Der späten Sonne wie ein Herzensfreund verbunden, schrieb er in seiner „Ode an den Herbst“ (orig. „Ode to Autumn“).
Die Sonne scheint an diesem Herbstnachmittag ein paar Dutzend Meilen westlich von Winchester von einem wolkenlosen Himmel als wir das Auto an einer Steinmauer abstellen. Zu Fuß setzen wir die Reise fort, durch das von Steinlöwen flankierte Eisentor, die gewundene Straße entlang zu Breamore House, einem elisabethanischen Herrenhaus, eines der Ausflugsziele im Nationalpark.
Vorbei an schweren Brokatvorhängen, einer Galerie an goldgerahmten Gemälden, einem Reise-Kabinett aus Elfenbein geht es vom Audienzraum über das Schlafgemach aus der Tudorzeit ins blaue sowie rote Gesellschaftszimmer (ins erste zogen sich die Frauen nach dem Mittag-, ins zweite nach dem Abendessen zurück). Hier schmücken unerwartet moderne Fotografien die Kommoden.
Denn die Besitzerfamilie Hulse – deren Vorfahren Leibärzte der Königsfamilie waren – lebt noch in den Räumlichkeiten. Sohn Westrow ist nach der Tour am Vorplatz anzutreffen. Sein Lieblingsort in dem Gebäude? „Als Kind bin ich gerne auf dem Dachboden herumgeklettert“, erzählt er. „Heute zieht es mich nach draußen.“ Bezeichnend für eine Nation, deren royales Oberhaupt oft in Gummistiefel und Windjacke zu sehen ist. Westrow deutet auf den Hügel hinter dem Haus, auf dem sich eines von nur mehr zwei bestehenden Miz-Mazes Englands befindet, ein Rasenlabyrinth aus dem Mittelalter, das irgendwie Ruhe ausstrahlt.
Bekannt könnte das Herrenhaus so manchen vorkommen, selbst wenn sie noch nie hier waren: Regelmäßig wird es zum Drehort. 2005 wurde etwa die Verfilmung des Jane-Austen-Romans „Stolz und Vorurteil“ gedreht. Die britische Schriftstellerin hat große Teile ihres Lebens in Hampshires verbracht. Zwanzig Minuten nördlich von Winchester wurde ein Cottage, in dem sie lebte, in ein Museum umgewandelt. Und das Dolphin Hotel, dem ältesten Hotel Southamptons, erinnert gerne daran, dass Austen 1793 hier ihren 18. Geburtstag feierte. Sie kommentierte den herrlichen Ballroom im ersten Stock mit seinen „wunderschönen Erkerfenstern“, der heute noch Veranstaltungsort ist.
Auf den Spuren der Titanic
Die Hafenstadt war zur Zeit Jane Austens begehrter Kurort, nachdem 1740 eine eisenhaltige Quelle entdeckt worden war. Die Seeluft gepaart mit dem ländlichen Charme lockte Adel und sogar Königsfamilie; heute sind es vermehrt Tagestouristen. Immer wieder blitzen die obersten Decks schwimmender Riesenhotels zwischen Hausgiebeln hindurch – Southampton hat einen der größten Kreuzschifffahrthäfen Europas.
Zudem kommen BesucherInnen aus der ganzen Welt, um auf den Spuren eines besonders Passagierschiffs zu wandeln; dem damals größten Ozeandampfer, der am 10. April 1912 mit 2.224 Personen den Ankerplatz 44 verlassen hat: die Titanic.
„Werft einen Blick durch das Kirchenfenster“, sagt Tour-Guide Bryan, als wir in der Bugle Street bei der St.-Josephs-Kirche vorbeikommen. Zu sehen: ein Eichentisch, der den Restaurantmitarbeitern der Titanic gewidmet ist. Von den rund 1.500 verstorbenen Passagieren stammte ein Drittel aus Southampton; die meisten von ihnen hatten auf dem Schiff gearbeitet. Bei seiner „Secrets of the Titanic“-Tour (dt. „Geheimnisse der Titanic“) führt der Ire Bryan Walsh an verschiedenste, oft ungewöhnliche Erinnerungsorte.
Nur wenige Meter vom Anlegeplatz 44 fährt heute fast stündlich ein weitaus kleineres Schiff zu einem ganz nahen Ziel gleich vor der Küste Southamptons: der Isle of Wight, Englands größter Insel. „Es wäre unmöglich“, sagt Königin Victoria einmal über die diamantgeformte Insel, „einen schöneren Ort zu finden.“ Und so ist es nicht verwunderlich, dass sie hier ihren Landsitz, Osbourne House, errichten ließ, in dem sie immer wieder zu Kräften kam und der heute Museum ist.
Mit dem niedlichen Küstenort Shanklin liegt übrigens auch der sonnigste Ort Englands auf der Insel. Wir sind zurück auf den windigen, schmalen und oft steilen Straßen, in denen man anhalten muss, um den anderen passieren zu lassen. Doch das Anhalten gibt Zeit, die Landschaft so richtig wahrzunehmen. Oh, können Sie es sehen? Da vorne am Horizont? Die schroffen Steilklippen und dahinter: das glitzernde Meer.
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