Und immer wieder Sex: Wie sich Begierde in 30 Jahren verändert hat

Und immer wieder Sex: Wie sich Begierde in 30 Jahren verändert hat
„Express Yourself“ singt Madonna im Jahr 1989, ein junger Informatiker präsentiert die Idee für das WWW. Keiner ahnt, wie sehr das unser Liebesleben verändern würde. Von virtueller Lust, Sex mit Maschinen und der unsterblichen Sehnsucht nach Nähe.

Telefonsex im Auto? Vor knapp 30 Jahren möglich, aber ein Kraftakt. Cool war allerdings schon, wer rechts die Handgurke – Marke D-Netz, ca. 1 kg schwer – halten und mit links onanieren konnte, während die Affäre ins Telefon stöhnte. Da ahnte noch niemand was alles noch kommen würde. Denn als 1990 das analoge Mobilnetz in Österreich eingeführt wurde, hatte Tim Berners-Lee am europäischen Kernforschungszentrum CERN schon längst sein Konzept für das World Wide Web präsentiert – am 12. März 1989. „Vage, aber hochspannend“ kommentierte es der Chef des jungen Physikers und Informatikers. Das Ding sollte dem besseren Informationsmanagement dienen – vor allem für Forscher. Im Dezember 1990 war es so weit: Berners-Lee präsentierte den ersten Internet-Browser. Vermutlich hatte er kein bisschen Vorstellung davon, wie sehr seine Idee, gemeinsam mit der Erfindung des Internets (1969), unser Leben verändern würde – und damit unsere Beziehungen, die Intimität, den Sex. Heute ist die halbe Welt online.

Porno-Code

Schlüpfrige Bilder und Informationen wurden natürlich schon davor ausgetauscht. Weiß noch wer, was ASCII Porno ist? Die Abkürzung für „American Standard Code für Information Interchange“ ist ein Code mit Buchstaben, Ziffern und Zahlen – er gilt als erste Form der Internet-Pornografie. So wurden versaute Bilder kreiert – und via Netz verbreitet. Lächerlich harmlos im Vergleich zu heute. Denn erst das WWW machte die breite Entwicklung der Netz-Pornografie in den späten 1990er-Jahren möglich. Eine Liaison der Triebkräfte, denn – umgekehrt – gilt Pornografie als Motor für die kontinuierliche Erweiterung des World Wide Web. Mittlerweile existieren Milliarden einschlägiger Seiten und die damit verknüpfte Branche bringt immer wieder neue Ideen hervor, die Triebe der Menschen mittels Technologie hochzukitzeln – um sie in der Sekunde zu befriedigen. Heute sprechen wir nicht nur von digitalisierter Sexualität, sondern auch zunehmend von der Spezies „digisexueller Mensch“: Leuten, die sich mehr für Tech-Sex interessieren als für Partner aus Blut, Fleisch, Tränen.

Chatten – was?

Ich selbst kann mich noch erinnern, wie ich fasziniert daheim vor dem Computer saß, das Modem glühen ließ (um damit eine schaurig hohe Telefonrechnung zu produzieren) und diese Web-Adresse eines Magazins in den Browser tippte, die mir eine Freundin, pscht!, verraten hatte: „Da kannst du mit Männern erotisch chatten.“ Chatten – was? Musste ich probieren, gleich die halbe Nacht.

Was mir damals total abenteuerlich schien, ist nun Netz-Alltag. Sex ist omnipräsent, das Netz anarchisch bis radikal. Geht nicht, gibt’s nicht – sämtliche Sehnsüchte und jede noch so extreme Fantasie können mit ein paar Klicks befriedigt werden. Daheim. Im Büro. Irgendwo am Handy, im Park. Mehr davon. Und kein Ende in Sicht.

Denn der Transformationsprozess geht weiter und weiter. Technologie, Intimität, Begierde und Befriedigung verschmelzen zunehmend. High-Tech-Sex, mechanisiert und mit Bits und Bytes auf scharf gestellt, ist Mainstream. Jedem sein Lust-Booster. Was irgendwann als „Massage-Stab“ diskret als Frauenfreund gehandelt wurde, ist Lifestyle-Lust-Objekt Nr. 1 in vielen Schlafzimmern: der Vibrator. Nicht irgendein Vibrator, sondern intelligenter Bettgefährte, der streicheln, saugen, stoßen, rotieren, die Klitoris mit feinen Luftstößen verwöhnen kann. Oder via App ferngesteuert wird, sodass der Herr in New York es Madame in Floridsdorf besorgen kann. Da wäre etwa noch dieser Lust-Wunderwuzzi namens „Osé Personal Massager“, der die Empfindungen eines menschlichen Partners imitiert, mit „Mund, Zunge und Finger“, entwickelt von Robotic-Experten. Dagegen mutet der einst so legendäre „Rabbit“ aus der Serie „Sex and the City“ wie ein alter Radio-Kassettenrekorder an.

AI want(s) you!

Wer heute von der Zukunft der Sexualität spricht, kommt um das Thema Künstliche Intelligenz (AI = Artificial Intelligence) nicht herum. Sex mit Robotern wird heiß diskutiert, in ein paar Jahrzehnten soll er völlig normal sein – angeblich. Erste Beispiele dafür gibt es schon. Silikonhäutige Puppenschönheiten liegen in „Sexpuppen-Bordellen“ herum, allzeit bereit. Pervers, könnte man jetzt sagen. Oder absurd. Doch das Szenario eines sündteuren Edelpuffs mit Sex-Robotern haben ausgerechnet Touristiker entworfen. Das war 2012, heute ordern Männer auch privat Puppen, die stöhnen können, dazu Schamlippen, Brüste und Nippel aus dem Katalog. Intelligente Tools werden beim Robo-Sex in den nächsten Jahrzehnten ergänzen, was heute noch fehlt – etwa typische Sex-Ausdünstungen. Die Sozialwissenschaftlerin Yuefang Zhou von der Uni Potsdam ist überzeugt, dass die lebensgroßen Silikon-Sexpuppen irgendwann mit künstlichen Gehirnen ausgestattet werden, die sie zu „echten“ Gefährten macht, von Menschen kaum mehr zu unterscheiden. Das könne nicht nur der reinen Triebbefriedigung dienen, meint die Forscherin. Sie könnten Sex „lehren“ oder Menschen mit schwer umsetzbaren erotischen Fantasien unterstützen, ihre Sehnsüchte zu leben. Roboter wären keine Alternative, sondern Ergänzung. Genauso wie Hologramm-artige Sexpartner, die sich in der virtuellen Realität an- und ausknipsen lassen.

Wohin die Reise geht

Begierde als gigantisches Experimentierfeld – mit guten und schlechten Seiten: Zweifellos birgt diese Entwicklung die Chance, mehr über sexuelle Bedürfnisse zu wissen als je zuvor, selbstbestimmt, befreit von Scham und Angst. „Sexual Wellness“ sagen Zukunftsforscher dazu. Gleichzeitig ist das ein Fass ohne Boden – was noch und vor allem: Wo sind die Grenzen? Die Möglichkeiten scheinen unendlich, das macht das Suchen und Finden eines Partners genauso schwer wie das Bleiben in Beziehungen. Monogamie scheint bei all diesen Verlockungen ein immer abstrakter werdendes Konzept. Am Ende aber sind es immer noch wir, die in diesem Lustpalast bestimmen. Wir sind es, die entscheiden, wie menschlich, wie wohlig und warm der Sex ist, den wir haben wollen und kriegen werden. Umso wichtiger wird es in Zukunft sein, noch mehr zu wissen, welches sexuelle Wesen in uns steckt, was wir ersehnen, was gut tut. Technik wird dabei helfen. Doch am Ende geht’s auch in 30 Jahren nicht ohne das älteste Spiel der Welt: zwei Menschen, Haut an Haut, atmend, spürend und gierig aufeinander.

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