Ich begann, leise zu weinen

Über Arztbesuche damals und heute.

Wenn man früher einmal einen Facharzt besuchte, ging das so: Man bekam einen Termin für Viertelsieben in der Früh. Und obwohl man vorsichtshalber um zehn vor sechs erschien, war das Wartezimmer voll von Menschen. Manche von ihnen warteten bereits seit Mitternacht, andere seit 14 Tagen, wieder andere wussten nicht mehr, wie lange sie schon warteten, aber ihren Bärten nach zu schließen, schon sehr lange. Die einzigen beiden Sessel im Raum waren besetzt, und zwar von Großfamilien. Auch die Toilette war besetzt, eine Frau kochte dort Spaghetti für ihre sechs Kinder. An den nierensteingelben Wänden des Wartezimmers hingen ein Abreißkalender des Jahres 1958 und ein zusammengesetztes Puzzle, bei dem mehrere Steine fehlten, es zeigte entweder ein Panoramabild vom Bau der Silvretta-Hochalpenstraße oder die Skirennläuferin Brigitte Totschnig-Habersatter oder eine Seekuh. Daneben war eine vergilbte Ansichtskarte an die Wand geklebt, auf der nur noch die in Fraktur geschriebenen Worte "Willkommen in Oggau, älteste Rotweingemeinde Österreichs" zu erkennen waren. Wenn man dann zur Ordinationshilfe ging, die ein wenig so aussah wie Bruno Kreisky, nur bärtiger, und sagte "Entschuldigung, aber ich habe einen Termin", dann wurde es totenstill im Raum, von links nach rechts rollten Tumbleweeds durchs Bild, bevor alle Anwesenden in hysterisches Hohnlachen ausbrachen und sich immer wieder zubrüllten "Einen Termin! Hahaha! Einen Termin! Hohoho!"

Jetzt war ich wieder beim Facharzt. Termin um 8 Uhr 20. Dran gekommen um 8 Uhr 22. Röntgen (Rönktn, sagt man in Österreich) um 8 Uhr 23. Ultraschall um 8 Uhr 26. Ausführliche mündliche Diagnose. Entlassen um 8 Uhr 31 mit der Auskunft: "Befunde sind morgen fertig." Ich ging hinaus und begann, leise zu weinen.

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