Der Zorn hat mich mein Leben lang treu begleitet. Als Kleinkind, heißt es, war ich ein ziemlich unberechenbares Zornbündel, dem auch die Aussicht auf Selbstverletzung nur schwer Einhalt gebieten konnte. In der Schule trat nicht wirklich Besserung ein, was möglicherweise damit zu tun hat, dass mir die „Ilias“-Lektüre, mit der ich ziemlich viel Zeit verbrachte, den Zorn des Achill gewissermaßen als Angelpunkt der europäischen Kulturgeschichte ans Herz gelegt hat. Man ist entweder zornig, dachte ist, oder man hat sich mit den Verhältnissen abgefunden. Später wurde mir klar, dass man auch dann noch zornig sein kann, wenn man sich mit den Verhältnissen nicht nur abgefunden, sondern sogar innigst befreundet hat. Dieser Zorn der mittleren Jahre ist ein komplexes Gebilde.

Oft bricht er sich zum ungünstigen Zeitpunkt Bahn, manchmal frisst er still an einem, gelegentlich erinnert er uns dezent daran, dass wir auch schon anders konnten. Jetzt, im Alter, ist mir der Zorn zum Spielgefährten geworden. Am meisten Spaß haben wir beide, mein Zorn und ich, in den sozialen Netzwerken. Die gelten ja als Zornzuchtanstalten unserer Tage, als digitale Sümpfe, in denen die Empörung Tag und Nacht brodelt und sich jederzeit als „Shitstorm“ über die mehr oder weniger unschuldigen Nutzer ergießt. Mein Zorn und ich, wir beide, schauen uns das erste Reihe fußfrei an. Manchmal streuen wir ein wenig Pfeffer in die ständig brodelnde Empörungsbrühe, gelegentlich rufen wir „Uuuh“ und lachen wie die Kinder, wenn sich einer schreckt. Seit einer Woche ist es auch damit vorbei. „With all due respect“, schrieb mir Armin Wolf, der Landeshauptmann von Twitterstan, „aber bist Du nicht schon etwas alt für die André-Heller-mit-22-Phase?“ Mein Zorn und ich, wir beide, haben jetzt kein Zuhause mehr.

Kommentare