Gegenwärtige Vergangenheit
Ich weiß nicht, ob ich schon erwähnt hatte, dass „Magnolia“ zu meinen Lieblingsfilmen zählt. Nicht nur, aber auch wegen der Tatsache, dass darin Tom Cruise in der Rolle seines Lebens zu sehen ist. Und natürlich wegen des legendären Schlusssatzes: „Wir haben mit der Vergangenheit abgeschlossen, aber die Vergangenheit nicht mit uns.“ Soll heißen: Die Behauptung, wir hätten mit der Vergangenheit abgeschlossen, drängt sich uns überhaupt erst in dem Moment auf, in dem allen außer uns klar wird, dass das Gegenteil der Fall ist. Hätten wir mit der Vergangenheit tatsächlich angeschlossen, bestünde ja keinerlei Grund, sie uns als etwas zu vergegenwärtigen, das keine Bedeutung mehr hat. Während wir also mit allen uns zur Verfügung stehenden Tricks versuchen Ereignisse, Handlungen und Gefühle, die bereits hinter uns liegen, uns aber noch immer unangenehm sind, endgültig der Vergangenheit zuzurechnen, machen unsere Kinder das glatte Gegenteil: Sie wollen nicht einsehen, warum die Vergangenheit Vergangenheit sein sollte und nicht jederzeit alternativ gestaltbare Gegenwart. Versuchen Sie einmal, ihrem dreieinhalbjährigen Sohn klarzumachen, dass etwas, das Sie gerade gegessen haben, von ihm nicht noch einmal gegessen werden kann. Ich hab’s versucht. Ich habe auch versucht, nicht schon nach dem sechsten Mal „Aber ich will es essen“ die Nerven wegzuschmeißen, sondern ihm mindestens zehn Mal geduldig zu erklären, dass nun eben etwas, das bereits gegessen worden ist, nicht noch einmal gegessen werden kann, nicht einmal von ihm. Wenn ich richtig gezählt habe, fand das Nervenwegschmeißen nach dem neunten Mal statt. Und wenn ich mich richtig erinnere, habe ich, nachdem ich wieder einigermaßen bei Sinnen war, zu mir gesagt: Damit habe ich jetzt endgültig abgeschlossen.
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