Das Leben ist kein Hornkonzert

Die Realität ist, wie sie klingt: hart und laut. Darum sollten wir sie meiden, so gut es geht.

Während ich in meiner politischen Präferenz ziemlich festgelegt bin – ich wähle seit fast zwei Jahrzehnten bei fast jeder Wahl fast alle Parteien, jedenfalls immer mindestens zwei –, bin ich ohrentechnisch ein Wechselwähler. Es gibt Zeiten, in denen ich mit Realitätslärm besser zurechtkomme als in anderen. Da verzichte ich dann zumindest während längerer Läufe auf Musik und gebe der Natur eine Chance. Manchmal ertrage ich in solchen Phasen sogar Straßenbahnfahrten ohne Zustöpselung, vorausgesetzt sie dauern nicht länger als drei Stationen. Derzeit befinde ich mich in einer Phase, in der ich Realitätslärm vollständig vermeide. Geräusche, die nicht unmittelbar Gesprächen zuzuordnen sind, an denen neben mir eine ungerade Zahl von Personen teilnimmt, die kleiner als drei ist, müssen eliminiert werden. Jetzt gerade höre ich Mozarts Klarinettenkonzert A-Dur, KV 622. Dass ich in regelmäßigen Abständen bei Mozarts Bläserkonzerten lande, hat klarinettenseitig mit der Erinnerung an meinen Bruder zu tun, hornseitig mit meiner Passion für den weichen Klang. Das Hauptproblem, das ich mit der Realität habe, besteht darin, dass sie klingt, wie sie ist: hart und laut. Man könnte auch sagen, dass die Realität eine permanente Telefonkonferenz ist. Auch das spricht nicht gerade für die Realität. Genau genommen spricht nichts für die Realität außer der Realität, die allerdings spricht laut und hart und das ist der Grund dafür, dass wir sie vermeiden müssen, so gut es geht. Aber das Leben ist kein Hornkonzert, das weiß ich spätestens, seit ich mit einer Fleisch gewordenen Telefonkonferenz das Zimmer teile. Sollten Sie in irgendeinem Appstore ein Teil finden, mit dem man das Leben auf lautlos stellen kann, lassen Sie es mich bitte wissen. Ich würde dafür fast jeden Preis zahlen.

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