Die Lüge und der Tod

Die Peinlichkeit ist die Todesdrohung des sozialen Alltags. Wäre es anders, würden wir weniger lügen.

Angeblich gibt es Untersuchungen, die zeigen, dass der durchschnittliche Mensch durchschnittlich ziemlich oft am Tag lügt. Wird schon stimmen, wenn es die Wissenschaft sagt. Ich glaube an die Wissenschaft, auch wenn sie nicht an mich glaubt. Wirklich interessant wird das alles ja erst, wenn die Vorgänge, die da beschrieben werden, aus dem Nebel des Halbbewussten auftauchen und uns Entscheidungen abverlangen. Kurz bevor dieser Text entstand, war ich am John F. Kennedy Flughafen gelandet und hatte ein SMS von meiner Lieblingschefin vom Dienst abgerufen. "Ich brauche die Kolumne" stand da, und das war, gemessen an der Freundlichkeit der Absenderin, ungefähr in der Kategorie "Fatwah" einzuordnen. Wenn dir der Tod vor Augen steht, lügst du, das haben die ausführenden Organe der heiligen Inquisition genau so gut begriffen wie die Organisatoren der Schauprozesse in Moskau. Aber natürlich versuchen wir durch unsere kleinen Lügen nicht nur den Tod, sondern auch alle anderen Arten von Unbill zu vermeiden, zum Beispiel das Eingeständnis, etwas vergessen zu haben ("Nein, ich habe Ihr Mail nie bekommen, muss wohl ein technisches Problem gewesen sein"), sich die Zeit schlecht eingeteilt zu haben ("Mein Straßenbahnfahrer hatte einen epileptischen Anfall") und sonstige Bekenntnisse, die bei Weitem nicht tödlich, aber doch peinlich wären. Die Peinlichkeit ist nämlich die Todesdrohung des sozialen Alltags. Jedenfalls habe ich in diesem Fall von einer Lüge abgesehen und bin heute etwas früher aufgestanden. Dass wir gestern mit einem Kleinkind vor der verschlossenen Tür des gebuchten Apartments standen und kurzfristig ein neues Quartier in Brooklyn finden mussten, erwähne ich, obwohl es mit der verspäteten Lieferung dieses Textes in keinerlei Zusammenhang steht.

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