Zu den vielen Menschen, die ich nicht verstehe, gehört der Buh-Rufer. Er ist, glaube ich, unter den Unerlösten einer der Ärmsten. Ich meine, wenn jemand seine Persönlichkeitsstörungen im Bordell, auf der Autobahn oder als Unternehmensvorstand auslebt, ist das auch nicht sehr super, aber immer noch irgendwie nachvollziehbar, weil es sich um Umgebungen handelt, in denen nicht das Schöne regiert. Aber seinen Minderwertigkeitskomplex, Welt- und Selbsthass oder Geschlechtsverkehrsentzug nach 14 Stunden Musik in die Arena zu brüllen, dass die Schweinsäuglein im Blut schwimmen?

Ich weiß nicht. Dieser Tage habe ich ihn wieder hautnah erlebt, den Buh-Rufer, und zwar in Überzahl. Bayreuth, der Vorhang am Ende der Götterdämmerung ist gefallen, Auftritt Frank Castorf, der Regisseur dieses Jubiläums-„Rings“. Ein Buh-Orkan bricht los, den der müde Rebell durch linkisches Ausharren auf der Rampe verlängert, so gut es geht. Ich sitze im ersten Kreis der Hölle, geschützt durch einen Kordon aus Kritikern.

Die buhen nicht und klatschen nicht, die fühlen sich nicht als Teil des Publikums – auch eine Art der Persönlichkeitsstörung, aber eine milde. Ab dem zweiten Höllenkreis wird gebuht. Als eiserner Verfechter des Wettbewerbsgedankens finde ich es natürlich angemessen, bei den guten Sängern laut zu klatschen und bei den Krächzern nicht, wir sind ja nicht in der Waldorfschule. Aber dieses Gebuhe beängstigt mich zunächst. Beim genaueren Hinsehen stellen sich allerdings Erleichterung und ein Verdacht ein: Die Buher sind Kläffer, die beißen nicht. Das sind Leute, die im wirklichen Leben kuschen und schleimen und sich verbiegen, und im Theater toben sie sich aus, da bestrafen sie den Künstler dafür, dass er nicht so ein Scheißleben hat wie sie. Gut, dass sie Buh-Rufer und nicht Amokläufer geworden sind.

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