Seilers Gehen: Eine Lücke, eine entsetzliche Lücke

Seilers Gehen: Eine Lücke, eine entsetzliche Lücke
Unweit des Botanischen Gartens wartet eine Brache auf den Baustart.

Es gibt Bücher, die man besser nicht liest, weil man sie nämlich hören sollte. In speziellen Fällen fügt der Vortrag dem Inhalt etwas hinzu, was die Lektüre allein gar nicht vermitteln kann: eine Form von Lebensnähe, für deren Vermittlung es der menschlichen Stimme bedarf.

So kam es, dass ich ein Buch namens „Ach, diese Lücke, diese entsetzliche Lücke“ vornehmlich in meinen Kopfhörern hörte, in Etappen, spazierend, insgesamt zwölf Stunden und zwei Minuten lang, vorgelesen vom Autor und Schauspieler Joachim Meyerhoff, der nicht nur die Kunst des Vortrags beherrscht, sondern ein großartiger Schriftsteller mit einem entwickelten Gefühl für Pointen ist.

Manchmal setzte ich mich, um weiterzuhören, in den Botanischen Garten, wo Meyerhoff übrigens regelmäßig spazieren ging, als er noch in Wien lebte. Wenn Sie also einen Typen gesehen haben, der vor den Seerosen auf einem Bankerl sitzt und dauernd laut lachen muss, obwohl er allein und nicht Joachim Meyerhoff ist – das war wahrscheinlich ich.

Aber eigentlich wollte ich nur von einer Lücke erzählen, einer entsetzlichen Lücke, die sich unweit des Botanischen Gartens in der Metternichgasse geöffnet hat. Hier wurde ein mehr als 5.000 Quadratmeter großes Grundstück dem Erdboden gleich gemacht, und das ist besonders interessant, weil sich die urbane Brache mitten im Diplomatenviertel befindet und bis vor einiger Zeit die Deutsche Botschaft beherbergte.

Abgeschottetes Unkraut 

Jetzt ist das Grundstück abgeschottet. Erhascht man einen Blick durch die abgehängten Begrenzungszäune, sieht man eine planierte Ebene, teilweise mit Planen ausgelegt, anderswo schon wieder in Besitz genommen von Unkraut und anderen unverdrossenen Pflanzen, die nichts auf die Adresse geben, die sie bewohnen.

Hier befand sich schon von 1877 bis 1938 die kaiserliche Gesandtschaft der Diplomatie, eine deutsche Vertretung in Wien. Von 1938 bis 1945 wurde sie in ein Offiziersheim der Wehrmacht umgewandelt und im Zweiten Weltkrieg stark beschädigt. Bis 1955 stand das Grundstück dann unter britischer Verwaltung, und erst im Oktober 1962 wurde nach Plänen des Architekten Rolf Gutbrod ein Neubau erstellt, der sich offenherzig und transparent präsentierte, ein schönes Zeichen für das neue Selbstverständnis Deutschlands.

Dieses Haus ist wieder verschwunden. Neue Anforderungen an Platz, Sicherheit und Zugänglichkeit, heißt es, hätten einen Neubau unvermeidlich gemacht. Obwohl die Planung dafür schon seit Jahren abgeschlossen ist – ein Entwurf des Leipziger Architekturbüro Schulz & Schulz ist längst abgesegnet –, geht auf der Baustelle gerade gar nichts weiter und die Baulücke offenbart Blicke in die Hinterhöfe, wo bestimmt niemand traurig darüber ist, dass die Baumaschinen noch nicht den Betrieb aufgenommen haben.

Ich gehe die Reisnerstraße entlang. Botschaften, Residenzen, groß, klein, mächtig, kurios. Die liebste dieser diplomatischen Vertretungen ist mir persönlich übrigens das inoffizielle Konsulat Frankreichs: ein kleines, französisches Restaurant namens „Léontine“.

Botanischer Garten – Rennweg – Reisnerstrasse – Metternichgasse – Reisnerstrasse: 2.000 Schritte
 

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