Seilers Gehen: Das Spiel vom Farben sammeln

Seilers Gehen: Das Spiel vom Farben sammeln
Diesmal führt die Route vom Prater über den Hohen Markt bis hin zum Schmerlingplatz.

Ich gehe durch die Stadt und sammle Farben. Das ist ein schönes Spiel, und es macht ganz besonderen Spaß, weil es am besten in der Dämmerung funktioniert, meiner liebsten Tageszeit. Ich beginne im Prater, dort, wo der O-Wagen seine Schleife dreht. Dort steht das Buffet, wo es Schmalzbrote und Spritzer gibt, und der Schriftzug „Open“ blinkt fast so rot und blau wie, ähem, der Las Vegas Strip. Farbe eins.

Von hier ist es nicht weit in den Wurstelprater, wo die Farben naturgemäß laut und schrill sind. Ich könnte eine ganze Reihe von Geschäften nennen, deren Zweck es ist, die Schwerkraft vorübergehend außer Kraft zu setzen, aber keines gefällt mir so gut wie die etwas angejahrte Hochschaubahn „Die Wilde Maus“. Sie zeigt eine einwandfreie Mischung aus Grün, Gelb und Rot, nicht alle Glühbirnen in Betrieb, dafür eine eindrucksvolle Lärmkulisse als Zuwaage (und den Hader-Film, der im Hintergrund mitschwingt). Farbe zwei.

Ich verlasse den Prater und seine schreienden Farben und gehe auf der Praterstraße stadteinwärts. Ich biege aber nicht mit den Autos zur Urania ab, sondern gehe geradeaus bis zur Unteren Donaustraße weiter, bleibe vor dem Jean-Nouvel-Turm, der das SO/-Hotel beherbergt, stehen und betrachte den bunten, poetischen Himmel, den die Schweizer Künstlerin Pipilotti Rist hoch über der Stadt, an der Decke des Hotelrestaurants, eingezogen hat. Wie ein lebendiger, sich ständig erneuernder Sonnenuntergang hängt er da, verzaubert die Menschen dort oben an ihren Tischen sowieso, aber auch flüchtige Passanten hier unten wie mich. Farbe drei.

Ich überquere den Donaukanal, gehe die Rotenturmstraße hinauf und biege in den Hohen Markt ein. Vor dem Haus Nr. 3, wo im Souterrain das Römermuseum untergebracht ist, bleibe ich stehen und betrachte die streng geometrische Fassade mit den 35 quadratischen Fenstern, die in regelmäßigen Abständen andere Farben annehmen, Rot, Lila, Blau, durchaus elegant und ein kecker Kontrast zur sachlichen Umgebung. Farbe vier.

Jetzt gehe ich über das Lugeck und die Bäckerstraße hinunter zum Luegerplatz, wo ich vor dem Café Prückel stehen bleibe und das MAK, das Museum für angewandte Kunst, anvisiere, dessen Fensterfluchten der Lichtkünstler James Turrell in eine sich ständig verändernde Farbkulisse verwandelt hat. Ein paar Minuten vor dem MAK ersetzen die tägliche Meditationsübung – vielleicht sind sie sogar die tägliche Meditationsübung. Farbe fünf.

Ein wenig ziellos folge ich jetzt dem Ring, sehe die Rücklichter der Autos, den beleuchteten Springbrunnen am Schwarzenbergplatz, die angestrahlte Oper mit ihrer temporären Lichtinstallation im oberen Stock, die Museen und das Denkmal dazwischen, und plötzlich stehe ich vor dem Parlament, das noch immer Baustelle ist, und mein Blick fällt auf den „Wiener Würstelstand“ vor dem Palais Epstein, wo es, groß geschrieben, HOT DOG gibt, und diese zauberhaft paradoxe Botschaft vermittelt mir, dass ich am Ziel meines Spiels angekommen bin, für heute, Farbe sechs, eine Heiße, bitte, und ein Sprite, Farbe sieben, Farbe acht.

Endstation O-Wagen – Wurstelprater/Wilde Maus – Praterstern – Praterstrasse – Schwedenbrücke – Schwedenplatz – Rotenturmstrasse – Hoher Markt – Lugeck – Bäckerstrasse – Dr.-Karl-Lueger-platz – Stubenring – Parkring — Schubertring – Kärntner Ring – Opernring – Burgring – Schmerlingplatz:  8.500 Schritte

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