"La Bella" im Winter: Die Kunst, Venedig für sich allein zu haben

"La Bella" im Winter: Die Kunst, Venedig für sich allein zu haben
Venedig ist auch in der kältesten Zeit wunderschön: Ungewohnt leer lädt sie zu vielen Entdeckungen ein. Vor allem im Kunst- und Kulturbereich bietet die italienische Traumstadt wahre Schätze.

Die Schöne lässt einen zweiten, ja sogar einen dritten Blick zu: Einen Blick auf den fast leeren Markusplatz, der Fotos ohne querende Touristenhorden ermöglicht. Einen Blick auf die traumhaften Palazzi entlang des Canal Grande, der möglich ist, weil man sich an der Reling des Vaporetto in Position bringen kann, ohne bedrängt und angerempelt zu werden. Den Blick auf großartige Kunstwerke in den Museen, im Grassi, in der Punta della Dogana, im Palazzo Ducale. Auf einmal durchdringt man die Schleier, in die sich Venedig aus Selbstschutz angesichts von 22 Millionen Touristen pro Jahr hüllt. Kann die surreale Pracht der Stadt auf sich wirken lassen, kann stehen bleiben und staunen. Die Schöne, sie ist entspannt – und nimmt den Besucher mit Herzlichkeit und Gelassenheit auf.

Venedig im Spätherbst und Winter, das ist eine ganz andere Geschichte als jene vom dampfenden, drängenden, lärmenden Sommer-Venedig. Die Nebel wabern, manchmal gibt es auch Hochwasser, selten Schnee. Alles ist entschleunigt, ganz ruhig. Die Biennale ist vorbei, mit Ende November geschlossen bis zum nächsten Mai. Wobei sie heuer, in diesem absoluten Ausnahmejahr, ohnedies auf den italienischen Hauptpavillon in den Giardini beschränkt war. Unter dem Titel „The Disquieted Muses“ wurde die Geschichte der Biennale, die seit 1895 stattfindet, aufbereitet. Die weiteren Pavillons in den Giardini und im Arsenale blieben zu.

Alles ist jetzt anders, und es muss nicht schlechter sein. Das fängt schon damit an, dass zuletzt in den kleineren Hotels und Pensionen von Venedig kein Essen, auch kein Frühstück serviert werden durfte. Also ging man raus, setzte sich ins Caffè auf der nächstgelegenen Piazza und bestellte Espresso und Cornetto wie die Italiener. Beobachtete genüsslich das morgendliche Treiben auf der Piazza, bewunderte die schönen Ragazze und trank noch einen Kaffee. Hotelbuffets müssen nicht sein.

Die Stadt und ihre Kunst rufen – es geht zur Chiesa di San Lorenzo am gleichnamigen Campo im Viertel Castello. Hier hat die von Francesca Thyssen-Bornemisza gegründete TBA21-Academy eine interaktive Ausstellung zum Thema Verschmutzung der Weltmeere gestaltet. Auf großen, schief gestellten Computerpaneelen, die im vorderen Teil der leeren Kirche aufgestellt sind, werden die Auswirkungen menschlicher Zivilisation und Aktivität auf die Ozeane visualisiert. Dazu gehören das Steigen des Meeresspiegels, die Überfischung und Verschmutzung, aber auch Kriegsrelikte wie Atommüll im Meer. Der Titel „Oceans in Transformation“ verheißt in diesem Fall nichts Gutes. Die sakrale Atmosphäre von San Lorenzo lässt das Gesehene und Gehörte noch eindringlicher wirken.

Ebenfalls im Sestiere Castello, am Campo Santa Maria Formosa, befindet sich der Palazzo Grimani. 1981 vom italienischen Staat erworben, wurde der rosafarbene Palazzo aus dem 16. Jahrhundert aufwendig renoviert und im Jahr 2001 als Museum wiedereröffnet. Der Besucher flaniert durch klassizistische Salons, den Saal der Blätter, den Dogensaal und die Kammer des Apollon, bis er in der Tribune, der Kammer der Antiquitäten, anlangt. Ein absolutes Wow-Erlebnis: Hundertdreißig antike Skulpturen werden in eigens dafür errichteten Nischen dargeboten, der Raum ist – wie das Pariser Pantheon – auf drei Seiten geschlossen und von einer Kuppel belichtet. In der Mitte des Raums hängt die Skulptur „Ratte von Ganymed“, wie ein Menetekel baumelt sie über dem Kopf, als wäre sie vom Himmel durch die Kuppel gefallen. Die einzigartige Skulpturensammlung im Palazzo Grimani ist noch bis Mai 2021 zu sehen.

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Die Tribuna, der Skulpturensaal im Palazzo Grimani, mit seiner beachtlichen Kuppel.

Pistaziensauce am Markusplatz

Zeit für eine Essenspause. Was sonst als Schnapsidee erscheint, nämlich am Markusplatz ins Quadri zu gehen, ist nun eine verlockende Idee. Um 1900, als Venedig noch zu Österreich gehörte, war das Quadri das Caffè, in dem die österreichischen Offiziere verkehrten. Im Caffè Florian, auf der anderen Seite des Markusplatzes, traf sich der Widerstand, die venezianischen Nationalisten. Heute ist das Quadri ein schicker Gourmettreff, gestylt von Stardesigner Philippe Starck und kulinarisch geprägt von der Familie Alajmo. Massimiliano und Raffaele Alajmo gelten als die Big Player der norditalienischen Topgastronomie. Ihr Restaurant Le Calandre in Padua hat seit dreizehn Jahren einen Topplatz im „World’s 50 Best Restaurants“-Ranking. Aber auch das Quadri kann sich längst über einen Michelin-Stern freuen: Alajmo etablierte zur innenarchitektonischen Fusion von Tradition und Moderne eine Küche, die ebenfalls Tradition und Moderne in sich vereint. Fische und Meeresfrüchte kommen vom Rialto-Markt nebenan, die Nudeln werden mit Pistaziensauce sowie Muscheln aus der Lagune serviert. Im Grancaffè im Erdgeschoß gibt es Kaffee, Kuchen und exquisite Häppchen sowie feine Aperitivi. Es lohnt sich also hinzugehen – besonders jetzt, wo man ohne viel Tamtam einen Platz bekommt.

Wer sich für Architektur interessiert, für den ist ein Besuch im Ca’ Foscari, auch Palazzo Foscari genannt, in Dorsoduro den Abstecher wert. Der spätgotische Palazzo dient als Sitz der venezianischen Universität und bietet von seinem Großen Saal im zweiten Obergeschoß aus einen atemberaubenden Blick auf den Canal Grande. Einen Canaletto-Blick: Die Sicht durch die riesigen Fenster reicht von der Rialtobrücke im Nordosten bis zur Accademiabrücke im Süden. Gestaltet hat den Großen Saal der italienische Architekt Carlo Scarpa, der für sein meisterhaftes Fügen des Neuen zum Alten berühmt ist. Scarpa, einer der wichtigsten europäischen Architekten des 20. Jahrhunderts, der vom Palazzo Abatellis in Palermo über das Museo Correr in Venedig bis zum Museum Revoltella in Triest in ganz Italien seine markanten Spuren hinterlassen hat, liebte die Reduktion und den fast zärtlichen Umgang mit historischer Bausubstanz. Jedes Detail ist präzise gefertigt, die Farbgebung wie die Formen sind ungewöhnlich, aber kühn. Kurz: Den Großen Scarpa-Saal der Universität sollte man sich unbedingt ansehen.

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Architekturjuwel mit Panoramablick auf den Canal Grande: der Große Saal der Universität im Ca’ Foscari, gestaltet von Carlo Scarpa.

Unscheinbar von außen, aber perfekt durchdesignt im Innern ist auch die Negozio Olivetti unter den Arkaden des Markusplatzes. Carlo Scarpa gestaltete den Olivetti-Shop im Herzen Venedigs im Jahr 1958. Zarte Mosaikböden kontrastieren mit einer offenen, steinernen Treppe, marmornen Stützpfeilern und edlen Teakholzelementen, auf denen alte Olivetti-Schreibmaschinen in symmetrischer Strenge ausgestellt sind. Alles ist perfektes Handwerk – sogar Handwerks- und Architektenkunst, die die Zeit überdauert.

Wer einen schönen sonnigen Tag erwischt, sollte sich zu einem Ausflug hinreißen lassen: mit dem Boot hinüber zum Lido zum Flanieren am Strand und Fisch essen in Malamocco. Oder nach Murano den Glasbläsern zuschauen. Oder auf die Isola di San Michele, die Friedhofsinsel von Venedig mitten in der Lagune. Ein morbider Ort mit spektakulären Grabstätten. Weil sich der Friedhof als nicht mehr ausreichend erwies, wurde Stararchitekt David Chipperfield in den Neunzigerjahren damit beauftragt, ihn zu erweitern. Chipperfield konzipierte drei neue Anlagen, die eine Kapelle, ein Krematorium, Columbarien und Brunnen umfassen. In San Michele liegen unter anderem der Komponist Igor Stravinsky, die Dichter Ezra Pound und Joseph Brodsky sowie Ballettimpresario Sergei Diaghilev begraben. Ein mystischer Ausflug, vor allem wenn es dämmrig wird und die Lichter auf den Gräbern leuchten.

Der Literatur-Nobelpreisträger Joseph Brodsky liebte übrigens auch die kalte Jahreszeit in Venedig: „Im Winter erwachst du in dieser Stadt, vornehmlich am Sonntag, beim Läuten unzähliger Glocken, als vibriere hinter den Vorhängen ein gigantisches Porzellanservice auf einem silbernen Tablett unter dem perlgrauen Himmel“.

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Klimafreundliche Anreise
Die ÖBB bieten zwei Tages- und eine Nachtverbindung nach Venedig (Fahrzeit: 8,5 Std.) Der Nightjet fährt um 21.27 Uhr vom Hauptbahnhof Wien ab und erreicht Venezia Santa Lucia um 8.23 Uhr. oebb.at

Unterkunft
– Sehr schön im authentisch venezianischen Stadtviertel Cannaregio ist das Hotel Heureka: liebevoll renovierter Palazzo mit nur 10 Zimmern und einem lauschigen Garten. Jedes der Zimmer ist anders gestaltet, das Hotel ist voll mit Skulpturen des Österreichers Julian Kohl. hotel-heureka.com
– Nüchtern designt und nicht so großzügig, aber perfekt gelegen ist das Maison Ducal nur wenige Schritte vom Markusplatz entfernt, hier wohnt man im Herzen der Stadt. hotelmaisonducal.com (Aktuelle Infos zu Öffnung und Preisen der Hotels auf den Homepages zu finden!)

Kultur
– Für die Besichtigung des Großen Saals der Universität im Ca’ Foscari ist eine vorherige Anmeldung nötig: cafoscaritour@unive.it oder Tel. +390412348323
– Das Museum im Palazzo Grimani hat normalerweise Dienstag bis Sonntag ab 10 Uhr geöffnet. palazzogrimani.org
– Der „Ocean Space“ in der Kirche San Lorenzo ist zurzeit coronabedingt geschlossen. Aktuelle Info finden Sie unter ocean-space.org

Venedig als Motiv in der Kunst

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Malerei: Wer Venedig auf Gemälden bewundern will, muss nicht unbedingt gen Süden reisen, sondern nur zum Wiener Maria-Theresien-Platz: Im Kunsthistorischen Museum kann man eintauchen in die Werke von Francesco Guardi, Pietro Zani und Canaletto. Die Dogana, San Marco, die Riva degli Schiavone, Rialto und der Palazzo die Camerlenghi oder der Canal Grande bei San Geremia sind wirklich bildschön

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Buch: Auch für Schriftsteller ist Venedig ein ewiger Sehnsuchtsort. In die Geschichte der venezianischen Bohème taucht Jana Revedin mit ihrem Roman „Margherita“ ein. Packend erzählt sie von der Großmutter ihres Mannes, der Aufsteigerin und Kunst- mäzenin Margherita Revedin. Im Dezember erscheint auch das neue Venedig-Buch von Gerhard Roth „Venedig – Das Spiegelbild der Menschheit“. Ein prächtiger Bildband

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