Berlin: 3,7 Millionen und doch Dorf

Berlin: 3,7 Millionen und doch Dorf
Die deutsche Hauptstadt wuchs vor hundert Jahren aus Gemeinden und Nachbarstädten zur Metropole Groß-Berlin. Wir fragten unsere Korrespondentin, an welchen Orten Berlin noch Dorf geblieben ist.

Wer die Berliner Karl-Marx-Straße mit ihren vielen Geschäften, Sonnenstudios, Bäckereien, Obst- und Gemüseständen an der Ecke Uthmannstraße für ein paar Hundert Meter verlässt, steht in einer anderen Welt: Kirchplatz, Schmiede, Wasserpumpe, Häuser mit Vorgärten und frühere Bauernhöfe böhmischer Einwanderer. Das Dorf in der Stadt heißt Rixdorf. Es liegt in Neukölln, einem Bezirk mit 330.000 Einwohnern aus 160 Nationen, der bunt und belebt, manchmal etwas ruppig ist, was Berliner Boulevardzeitungen gerne überzeichnen.

Wer von Parallelwelten spricht, müsste es auch in der dörflichen Idylle tun. Denn um den Rixdorfer Richardplatz wandern nicht nur ältere Anwohner mit Hunden, deren Bäuche am Boden streifen. Jüngere in Berliner Mode-Uniform, klobige Turnschuhe, schwarze Synthetik-Hose und Bomberjacke, wärmen ihre Hände an Glühwein to go. Ein paar Meter weiter spielen sie Pingpong am Böhmischen Platz. Vor einem Jahr zogen hier Autos durch, jetzt sind es Lastenfahrräder. Abbremsen müssen sie an diesem Nachmittag höchstens für die Menschentraube, die sich vor einem Café ohne Einrichtung für Kuchen und Kaffee zum Mitnehmen anstellt.

Den Traum vom Dorf wollen hier viele leben. Die Zuzügler aus den Bundesländern, die „Rollkoffer-Fraktion“ und jene, die Touristen so nennen und schon immer hier waren. Über das Wie wird gerungen. Dort, wo für die einen Berlin cool sein soll, wird es für andere uncool. „Ich hab’ mal hier gewohnt“, steht in krakeliger Schrift auf einer Hausmauer.

Fragen zu Wohnen und Verkehr beschäftigte die Verwaltung in Berlin bereits vor hundert Jahren. Als man beschloss, die preußische Haupt- und Residenzstadt zu erweitern. Durch ein Reformgesetz wurden sieben Nachbarstädte wie Neukölln, neunundfünfzig Landgemeinden und sechsundzwanzig weitere Gutsbezirke im Oktober 1920 auf einen Schlag Teil von Groß-Berlin. Damit vergrößerte sich die Fläche um das Dreizehnfache von 66,93 auf 878,1 Quadratkilometer. Gemessen daran mutierte Berlin zur zweitgrößten Stadt der Welt nach Los Angeles. Der Bevölkerungszahl nach rangierte es auf Platz drei hinter London und New York.

Schöneberger, Charlottenburger, Spandauer und Köpenicker waren plötzlich Metropolen-Bewohner – ohne es zu wollen. Eigenständig und wohlhabend waren ihre Städte im Vergleich zur ärmlichen Hauptstadt. Selbstbewusst stampften sie Jahre vor der Zusammenlegung Rathäuser aus dem Boden, die Residenzen glichen. Jenes in Charlottenburg soll das Schloss von Kaiser Wilhelm II. überragt haben, zum Missfallen des Monarchen.

Noch heute fallen einem die pompösen Rathäuser auf – in der Stadt, die zuerst zusammenwuchs, dann durch eine Mauer auseinandergerissen wurde, und bis heute voller Kontraste ist: alte Dorfkerne zwischen Einkaufsstraßen, Luxusdachwohnungen auf ehemaligem kommunistischen Sperrgebiet, bürgerliche Schrebergärten unweit von besetzten Häusern. Das wundert in Berlin kaum wen, höchstens Besucher, die nach dem Zentrum oder der Altstadt fragen. Die gibt es historisch zwar, das Nikolaiviertel als ältestes Siedlungsgebiet der Stadt an der Spree. Doch das Leben vieler Berliner spielt sich im eigenen Kiez (der Wiener würde Grätzl sagen) ab und nicht zwischen Souvenirläden und Ausflugsschiffen. Wer sich auf die Stadtteile einlässt, erlebt überraschende Perspektiven.

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