Götter rufen? Selber tun!

Götter rufen? Selber tun!
Wunderschönklang. Musikarchäologie. Pfingstfestspiel-Intendanz. Was Cecilia Bartoli angreift, wird zum Hit. Feuer! Bei allem gebotenen Respekt. In Salzburg lässt sie heuer Glucks Oper „Iphigénie en Tauride“ neu kreieren. Als brennendes Thema in schwankender Zeit.
Von Ro Raftl

La Mamma kam zum letzten Probenschliff nach Salzburg. Allora. Zügelt Primadonna assoluta Cecilia Bartoli die Temperamente und schiebt das neue blaue Elektrorad. Artig, statt es sausen zu lassen: „Oft auch ohne Motor, um richtig Pedale zu treten. Das ist gut für die Figur.“ Heut hat’s die beiden in die Konditorei Fürst verschlagen, wo die Mamma nicht von den Punschwürfeln lassen kann. Punschtorte liebt sie. Das Geheimnis der makellos rosa Glasur möchte sie unbedingt entschlüsseln. Gelingt ihr. Garantiert. Schließlich hat die römische Sopranistin Silvana Bazzoni auch Cecilias Begabung rasch von einer frühen Flamme für Flamenco zur Klassik und zum Studium an der Accademia Nazionale di Santa Cecilia gelenkt, als ihre erste und bis heute einzige Lehrerin.
Na, nicht zwanghaft. Listig liebevoll. Klug. Die Tochter, strahlender Charme, stählernes Rückgrat, hat ihre Karriere so behutsam, solide wie medienwirksam aufgebaut: Mit ihrer „Lebensliebe“ Rossini, der Rosina in seinem Meisterwerk Der Barbier von Sevilla als 19-Jährige in Rom debütiert. Eine Hommage an Maria Callas in Paris ließ die Dirigenten Herbert von Karajan, Daniel Barenboim, Nikolaus Harnoncourt aufhorchen: „Als mich Karajan nach Salzburg rief, um Bachs H-Moll-Messe in der Kollegienkirche zu erarbeiten, war ich 22. Die Messe wurde nie aufgeführt, da er starb. Eine traumatisierende Erfahrung. Doch. Damals hab ich mir gedacht: Das ist es! Salzburg ist einzigartig. Was für ein Programm, was für Künstler, wie viel Intelligenz, welche Tiefe. Das muss man machen. Etwas Exklusives.“
Cecilia Bartoli, unbestritten eine der führenden Koloratur-Mezzosopranistinnen der Gegenwart, macht es. Sie hat an der Met gesungen, an der Scala, in Covent Garden, die ausdrucksstarke, selbst bei zufälligem Hören unverkennbare Stimme klug auf Mozart-Rollen, auf wenig Bekanntes aus dem Barock und der frühen Klassik spezialisiert. Den Kopf auf Musikarchäologie. Einen Bestseller nach dem anderen gelandet, einen Echo-Preis nach dem anderen kassiert, als sie für ihre CDs Antonio Salieri erforscht hat, die Geschichte der Kastraten, oder im Doppelpack mit einem Krimi ihrer Freundin Donna Leon den Geheimnissen des Priesters, Diplomaten, Komponisten Agostino Steffani nachgespürt. Die 48-Jährige gehört zu den kommerziell erfolgreichsten Künstlerinnen des Klassikmarkts. Effektive PR-Strategien beherrscht sie aus dem Effeff. Nur geheiratet hat sie still und ohne Presse.
Apropos, wo ist ihr Mann? Der Schweizer Bariton Oliver Widmer, mit dem sie seit rund elf Jahren am Zürichsee lebt. Zur Frage, wie’s denn für eine Italienerin so sei in der Schweiz, zwinkernd Carmens berühmtes „L’Amour, L’Amour!“ zu Hilfe nimmt. Ernsthaft fortsetzt: „Wir beraten einander und tauschen uns aus.“ Das funktioniert auf allen Ebenen. Skandalfrei. Also lacht sie: „Er kommt morgen. Hat nur noch in Fidelio gesungen.“

Doch. Auch Mutter und Tochter zeigen zärtliche Freude aneinander, wenn sie über die Hofstallgasse zum Singenüben heimgehen. Die Diva als Frau zum Angreifen in Turnschuhen, dunkelblauen Baumwollhosen, Pullover, federleichter Daunenjacke, schiebt das Rad. Nah beim Mozarteum hat sie eine Wohnung gemietet: „Zwei bis zweieinhalb Monate jährlich verbringe ich hier.“ Ja, wird immer länger seit 2012. Seit Bartolis überwältigend erfolgreichem Beginn als Intendantin der Pfingstfestspiele mit Händels Cleopatra, der sich mit Bellinis Norma und Rossinis Cenerentola fortgesetzt hat – abgesehen von allen anderen musikalischen Preziosen, mit denen sie das Herzthema fortspinnt, einkreist, punktiert.
Durchkomponiert, so ein Pfingstfestspiel à la Bartoli. Eines ihrer Erfolgsgeheimnisse. Diesmal ruft sie „alle Götter“ an ... Streichelt eingeschworene Barocknarren mit Händels Semele göttergleich, lässt Countertenor Philippe Jaroussky als Götterboten reiten, zaubert mit Rolf Lislevands La lira d’Orfeo renaissancemeisterlichen Götterklang, fährt zum Götterfest mit Anna Netrebko, Juan Diego Flórez oder Christopher Maltman auf. Im Brennpunkt die neue Kreation ihres vierten Salzburger Jahrs: Iphigénie en Tauride, die Reformoper des „Bohémiens“ Christoph Willibald Gluck, „in der sich Barock und Klassizismus, Klangrede und Klangzauber durchdringen.“ Steht so in dem Sagenbuch olympischer Vielfältigkeit, dem edel mit Marmorstatuen & Göttergemälden aufgepeppten Pfingstprogrammheft. Selbstredend wird Sven-Eric Bechtolf mit ein paar anderen Sternen aus Goethes Schauspiel Iphigenie auf Tauris lesen, Übertitel Götterkind. Was die Signora angreift, wird zum Hit.
Eine kleine Frau mit weichen Rundungen, die (fast) Jedermann & Jederfrau um den Finger wickelt. Bis er von strahlender Liebenswürdigkeit, lebenssprühender Energie, intelligenter Neugier, faszinierender Genauigkeit, schwärmerischer Begeisterung und allzeitwacher Empathie weichgespült, vor ihr kniet. Wohlig badet in der Aura Bartoli. Einer Aura, die ihr Publikum wärmt, berührt und glücklich macht.

Sie sei „immer so“, sagte Regisseur Michael Sturminger, der La Bartoli monatelang für die Filmdokumentation Malibran Rediscovered auf den Spuren der ersten Diva des 19. Jahrhunderts quer durch Europa begleitet hat. „Herzlich. Warm. Nie unfreundlich, niemals mühsam. Natürlich auch manchmal müde. Aber sie lässt sich nie gehen.“ Alexander Pereira hat sie in Salzburg installiert. Giftspritzen behaupten bisweilen zum Missvergnügen der (nach vielen Züricher Jahren) absolut loyalen „Santa Cecilia“, es sei das Beste gewesen, das er für Salzburg getan hat. Denn weder Festspielpräsidentin Helga Rabl-Stadler noch der designierte Intendant Markus Hinterhäuser wollen sie und „ihre starke Anziehungskraft“ missen: Bartolis Pfingstfestspielvertrag wurde bis 2021 verlängert. Cenerentola, Rossinis Aschenputtel-Oper, bei der die Zuschauer mit beseligtem Kinderlächeln aus dem Saal geschwebt sind – vom anmutig witzig inszenierten Märchenzauber ebenso angesteckt wie von Signora Bartolis unbändiger Freude, Musik zu machen – wurde ins „große“ Sommerfestival übernommen.
Kommenden Sommer sind’s gleich zwei Produktionen: Die fabulöse Norma Vincenzo Bellinis, die 2013 den „Oscar der Oper“, den International Opera Award „für ihre zukunftsweisend durchdachte werkgetreue Interpretation“ verliehen bekam. Mit der das Ensemble danach über zwei Jahre auf Tour geht, von Zürich, Monaco, Edinburgh, Paris bis Baden-Baden. Und. Ihr Pfingstherzstück, Glucks Iphigénie en Tauride, in französischer Sprache – „die Callas sang italienisch“, wischt die Diva Vergleichsdiskussionen prophylaktisch vom Tisch –, inszeniert von Moshe Leiser und Patrice Caurier, die schon Norma und Rossinis Otello mit ihr und für sie realisiert haben. Diego Fasolis dirigiert I Barocchisti, „sein“ Orchester mit historischen Originalklanginstrumenten.

Die Intendantin hat zur Probe ins Haus für Mozart gebeten: Zwei Akte sind schon publikumsreif. Feuer! Peitsche und Zuckerbrot. Grausame Wirklichkeit und schmeichelnder Wunderschönklang. Gluck? Ja Gluck, der Reformator, der sich in seiner vorletzten und erfolgreichsten Oper radikal von den starren Nummernabfolgen der Opera seria sowie der französischen Opéra-comique gelöst hat. Der Überzeugung folgend, dass seine Musik „die Sprache des Herzens sprechen, große menschliche Leidenschaften glaubhaft darstellen und der Poesie dienen soll“. Nach einem Libretto, dem ersten des jungen Franzosen Nicolas-François Guillard. Zur Uraufführung in Paris im Mai 1779 notierten die Mémoires secrets: „Einige Zuschauer sah man vom Anfang bis zum Ende schluchzen.“ Nun erzählen Bartolis Regisseure Iphigénie en Tauride als Stück der Zeit. Folgerichtig, ohne dass sich irgendjemand den Kopf mit dem großen Zeh kratzen muss: Flüchtlingslager, Eisenbetten, Sandlerstyling, steife Schritte, Depression. Man braucht nicht firm zu sein in griechischer Mythologie, auch nix von Goethe zu wissen, um mittendrin zu stecken im Psychodrama der griechischen Königstochter Iphigénie. Auf Tauris isoliert, zwingt sie Skytherkönig Thoas, alle auf der Insel gestrandeten Fremden zu töten und „seinen“ Göttern als blutiges Opfer zu bringen.
Ein Sturm wie Bombeneinschlag. Iphigénie, grau im Gesicht, mit Haar, das psychostressgeschuldeten Ausfall simuliert, will nicht mehr, kann nicht mehr. Ruft die Götter an, erzählt als grässlichen Traum die (na ja, doch bekannte?!) Familiengeschichte der Tantaliden.

Okay, kurz: Vom Fluch der Götter über den Urahn, als der seinen Sohn zerstückelt und gekocht zur Speise anbietet, um ihre Allwissenheit zu testen; von Väterchen Agamemnon, der Iphigenie in Aulis blutig zu opfern bereit ist, bis sie Göttin Diana nach Tauris enthebt; von Mütterchen Klytämnestra, die mit ihrem Lover Äghist den Daddy ermordet ... und die Schreckensvision, sie selber hätte den Bruder Oreste mit dem Messer erdolcht. Aus und genug. An einer zwangsjackenartig erscheinenden Bettdecke will sie sich am Bettgestell erhängen.
Thoas erscheint. Obskure Hinweise prophezeien ihm Tod, sollte er einen Fremden davonkommen lassen. Doch. Eben hat es zwei auf die Insel verschlagen. Oreste und sein Inséparable Pylades. Natürlich erkennen die Geschwister einander nicht. Und natürlich stoßen, treten, quälen die Skyther mit wildem Blutgeschrei. Im Militarylook stimmen sie mit den Bildern aller Milizen, die momentan heilige Kriege führen, überein. So plakativ, so gerechtfertigt.
Wenn die Furien durch einen Albtraum Orestes jagen, der die Mutter erschlagen hat, blutige Hände und Köpfe aus dem Bühnenboden hochfahren, fällt einem irgendwie das Papa!-Papa!-Geschrei aus dem dritten Akt Rosenkavalier ein, und der ist eine Komödi’. Doch. La Bartoli singt umwerfend schlicht und schön. Und Oreste will Pylades retten, um seine Schuld mit dem Tod zu sühnen ...


Ja, konsequente Ernsthaftigkeit steckt hinter Bartolis trällerndem Temperament. Sagt: „Thoas tötet im Namen Gottes. Wie absurd. Welcher Gott kann verlangen, menschliche Wesen in seinem Namen zu töten?“ Als Verwandlungskünstlerin lässt Signora ihre Vorstellungswelten vom Schicksal Iphigénies überwältigen, klagt abseits der Bühne wie ein Kind: „So jung war ich, als ich aus Griechenland weg musste. Fünfzehn. Seither eingesperrt. Völlig allein, ohne Familie, ohne Freunde. Gezwungen zu töten. – Ich? Natürlich sie.“ Gluck wiederum, das lange durch Europa vazierende heimatlose Genie, das erst nach Heirat einer kaiserlichen Hofdame in Wien sesshaft wurde, ist ein Fest für die Musikarchäologin. Die glaubt, dass es noch viel an seinen Opernreformen, dem Übergang vom Barock zur Klassik, der Fusion von deklamiertem Wort und Musik zu entdecken gibt.“
Und da ist keine Quotenfrau am Werk. Liften ließe sie sich übrigens nie. „Hätte gar keine Zeit“, kichert der Star: „Lieber den Kopf polstern mit neuen Ideen.“ Den Charakterkopf einer neugierig Liebenden, die ihren musikologischen Enthusiasmus, ihre detektivische Spürnase an Autografen, in Archiven, Bibliotheken, auch an Originalschauplätzen auslebt – wie 2007 für ihr „Projekt der romantischen Revolution“ auf den Spuren der vom Vater geprügelten und vom Publikum vergötterten Primadonna Maria Malibran.
Sieben Jahre brauchte die Diva für St. Petersburg, ihr aktuelles Album, „mit Werken italienischer Komponisten, die im 18. Jahrhundert an den Hof von St. Petersburg eingeladen waren“. Flog immer wieder nach Russland, oft vor verschlossenen Türen des Mariinski-Theaters, in dessen Archiven Texte zu dieser Musik zu finden sind. „Maestro Gergiev hat geholfen, trotzdem war’s bis jetzt meine komplizierteste Recherche.“ Abgesehen davon, dass Bartoli zwei Arien auf Russisch singt. „Das hab ich phonetisch gelernt: war sehr schwer.“
Richtig feurig aber leuchten die Augen, während sie vor Aufregung flüstert: „Ich bin sicher, dass im Vatikan die außergewöhnlichsten Musikschätze ruhen. Quellen zu Monteverdi undsofort!“ Versucht hätte sie’s schon, doch bis dato durfte kein Außenstehender je die Archive betreten. Eingedenk der Aufgeschlossenheit von Papa Francesco löst sich alles in kullerndem Gelächter: „Vielleicht seh ich ihn am Fenster. Mamma wohnt nicht weit weg von ihm.“ La Mamma. Sie wartet. Die Intendantin holt ihr Rad.

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