Die Autorin ist Ende fünfzig und eine von rund einer Million Menschen in Österreich, die ihre Angehörigen pflegen. Sie tragen damit – für die Öffentlichkeit kaum sichtbar – aktiv dazu bei, dass ihre Liebsten ihren letzten Lebensabschnitt in bestmöglicher Würde verbringen können.
Katja Jungwirth ist seit fünf Jahren tagein, tagaus auf Abruf. Sie weiß: Jeder Anruf kann ein Notruf sein. Oder nur ein Hilferuf, weil sich ihre zuvor hochaktive Mutter einsam fühlt. „Es schreckt mich jedes Mal aufs Neue.“ Dieser ständige Bereitschafts-Modus geht allmählich an ihre Substanz: „Die Angst, die Sorge, das macht schon was mit dir.“
Jeder Tag, ein Muttertag
In ihrem Buch schreibt die besorgte Tochter, dass für sie jeder Tag ein Muttertag ist. Denn es sind nicht nur die Hilferufe ihrer Mutter, die oft zu ungünstigsten Zeit an ihr Ohr dringen. Es ist immer auch die bange Frage, ob die alte Frau aus ihrem Bett aufstehen wird können, um ihre Wohnungstür zu öffnen.
Katja Jungwirth hat ihr Buch nicht geschrieben, um sich selbst in den Vordergrund zu drängen. „Ursprünglich habe ich ja einen Blog verfasst, um mir damit meine Sorgen von der Seele zu schreiben. Bis ich bemerkt habe, dass meine absolut ungeschönten Erfahrungsberichte auch andere interessieren.“ Wichtig sei ihr für das Öffentlich-Machen intimer Gefühle von Anfang an auch die Zustimmung ihrer Mutter gewesen.
Ein Lächeln oder ein Dankeschön
Wer eine rein traurige Geschichtensammlung erwartet, den kann und will die Autorin zumindest nicht durchgehend glücklich machen. Denn es gibt in ihrer privaten Pflege-Beziehung zwischendurch auch schöne Momente: „Zum Beispiel ein spontanes Lächeln oder ein unerwartetes Dankeschön.“
Und es gibt auch öfters Tage, die ohne blaue Flecken nach einem Sturz in der Wohnung oder der Ankündigung, nicht mehr leben zu wollen, verstreichen. „Aber damit alles gut funktioniert, muss auch ich gut funktionieren“, weiß Katja Jungwirth. Ihre beiden bereits erwachsenen Töchter meinen im Vertrauen, dass sie sich zu viel kümmert, dass sie einfach nicht loslassen kann, während sie selbst oft mit sich hadert, dass sie viel zu harsch mit ihrer Mutter umgeht. Im Buch heißt es dazu: „Meine Angst kapselt auch meine Gefühle ein.“
Wahre Geschichten, verspricht der Untertitel des Buchs. Sie werden deshalb mit Interesse gelesen, weil sie geeignet sind, anderen pflegenden Angehörigen ein wenig von ihren Selbstzweifeln zu nehmen. Zum Beispiel, wenn die Autorin zugibt, dass sie sehr wütend auf ihre Mutter werden kann. „Das ist öfters dringend notwendig“, merkt sie beim Kaffee an, fügt aber gleich hinzu: „Ist aber nur dann gesund, wenn die Beziehung grundsätzlich auf Liebe basiert.“
Schwer zu akzeptieren ist am Anfang auch, dass sich die Kräfteverhältnisse verkehren. An manchen Tagen wünscht sich die Tochter, „abends einfach auf der Wohnzimmer-Couch liegen bleiben zu dürfen und nicht noch einmal die Wohnung verlassen zu müssen“.
Woher nimmt sie die Kraft für dieses Leben zwischen großer Zuneigung und Erschöpfung? Katja Jungwirth denkt kurz nach, dann sagt sie in einem Atemzug: „Es ist das Wissen um die Endlichkeit des Lebens. Man wird auch ruhiger. Zudem habe ich einen lieben, einfühlsamen Mann und vier Kinder, auf die ich sehr stolz bin.“
Die eineinhalb Stunden Privatissimum mit der Autodidaktin für häusliche Pflege sind wie im Flug verstrichen. Ihr Telefon hat nicht geläutet. Ein gutes Zeichen? Sie blickt auf ihre Uhr, dann sagt sie: „Es ist schon zu spät, um bei Mutter noch vorbeizuschauen. Das werde ich aber am Nachmittag nachholen.“ Und vielleicht gibt es dann ja auch noch ein Lächeln und ein Dankeschön.
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