Summer of Love, Wirtschaftsboom: Was uns nach der Pandemie erwartet
In den USA wird wieder gehamstert – doch statt Klopapier und Mehl landen neuerdings Lippenstifte und Partykleidung im Einkaufswagen. Seit Präsident Joe Biden allen Landsleuten eine Impfung bis 4. Juli versprochen hat, schießen auch die Kondom-Verkäufe durch die Decke.
Amerika, scheint es, bereitet sich auf einen „Hot Vax Summer“ vor – dieser Begriff macht derzeit in sozialen Medien die Runde. (Vax ist kurz für Vaccine und eine Anspielung auf Sex.) Nach Monaten der Isolation, Entbehrungen und Sorge vor einer Infektion ist die Vorfreude auf einen unbeschwerten Sommer groß. Vor allem Singles träumen davon, ihrer Lust und Liebe endlich wieder freien Lauf zu lassen.
Bonus-Info „geimpft“
Zwar hinkt Österreich mit dem Immunisieren junger Menschen hinterher, die Bonus-Info „geimpft“ taucht aber schon jetzt in vielen Online-Dating-Profilen auf. „Sexualität kann man nur glücklich erleben, wenn man sich körperlich sicher fühlt. Durch die Impfung wird diese Sicherheit zurückgewonnen“, erklärt die Soziologin Christine Geserick, die gerade eine Studie zu den Pandemie-Folgen für Singles und Paare durchführt. Viele hätten sich auch zwischen den Lockdowns nicht getraut, jemanden zu treffen, und jetzt enormen Nachholbedarf. Vor allem junge Erwachsene, die vorübergehend wieder zu den Eltern gezogen sind. „Für sie war das eine massive Einschränkung. Das Hinausgehen, etwas erleben, sich ausprobieren – auch auf sexueller Ebene – gehört einfach dazu.“
Der tiefe Einschnitt könnte unser Dating-Verhalten nachhaltig prägen, glauben Psychologen. Eine Flirt-App rief jüngst den Post-Pandemie-Trend „Honesty Bombing“ aus: Partnersuchende haben keine Zeit mehr zu verlieren und „bombardieren“ einander mit ihren ehrlichen Wünschen und Bedürfnissen.
Auf Isolation folgt Hedonismus
Eine Tendenz, die auch Nicole Siller, psychologische Beraterin und Sexualcoach, beobachtet. „Ich nehme einen großen Hunger nach Flirts, Dates und Abwechslung wahr. Ganz sicher wird es mehr Casual Sex geben.“ Andere werden gezielter auf Partnersuche gehen. „Viele haben im Lockdown festgestellt, dass Alleinsein doch nicht so toll ist.“ Die Expertin prognostiziert zudem eine zweite Welle – nicht an Infektionen, sondern Trennungen. Denn der Hunger nach Flirts wird auch Paare (be)treffen, sobald Affären wieder leichter realisierbar sind.
Anders sehen das Soziologen der Unis Graz, Linz und Salzburg. Sie haben mehr als 2.000 Österreicher gefragt, wie sich ihre Einstellungen in der Krise verändert haben und diagnostizieren einen Trend hin zu konservativen Werten und weg von Hedonismus.
Wobei der Hunger nach Hedonismus – also allem, was luststeigernd ist –, erklärte der Yale-Professor Nicholas Christakis im Guardian, ein gängiges Phänomen nach Perioden der Massenisolation ist.
Synchrones Wachstum
Nicht nur die Liebe könnte nun vor einem Post-Pandemie-Boom stehen. Während Covid-19 in ärmeren Ländern wütet, rechnen Ökonomen in der reichen Welt mit einem satten Wachstum. The Economist hat die BIP-Daten der G7-Länder – sie reichen bis ins Jahr 1820 zurück – analysiert und herausgefunden, dass es eine derart synchrone Beschleunigung selten gab. Jedenfalls nicht mehr seit dem Nachkriegsboom in den 1950ern. Die Situation ist so ungewöhnlich, dass Ökonomen zurückblicken, um ein Gefühl dafür zu bekommen, was zu erwarten ist.
„Gesellschaftliche Umbrüche und soziale Reformbewegungen sind sehr oft im Gefolge von Pandemien aufgetreten“, sagt der Historiker Wolfgang Maderthaner. Tenor: „Wir haben vorher etwas falsch gemacht und müssen es jetzt besser hinbekommen.“ Da passt es ins Bild, dass Soziologe Christakis in seinem neuen Buch Apollo’s Arrow schreibt, dass die Pandemie der Spanischen Grippe zu erhöhter Risikobereitschaft geführt habe: Ab 1919 boomten Unternehmensgründungen, belegt eine des Studie des amerikanischen National Bureau of Economic Research, und auch heute steigen die Neugründungen in reichen Ländern sprunghaft an. Unternehmer versuchen, Marktlücken zu füllen.
Innovationskraft
Man sei offen für neue Ideen und Technologien, glaubt auch Maderthaner. Wer auf die 1920er-Jahre, die Zeit nach der Spanischen Grippe, zurückblickt, ist geneigt zuzustimmen: Es war die Ära der rasanten Automatisierung in Amerika, man denke an Telefon und Fließband.
Ökonomen bringen Pandemien schon länger mit arbeitssparender Technologie in Verbindung. Zynisch, aber nicht zu leugnen: Roboter werden nicht krank. Um diese These zu erhärten, haben Forscher des Internationalen Währungsfonds (IWF) eine Reihe von Krankheitsausbrüchen, darunter Ebola und Sars, analysiert und festgestellt, dass „pandemische Ereignisse die Einführung von Robotern beschleunigen“.
„Nach Kriegen, Pandemien und Katastrophen haben wir immer wieder erlebt, dass Innovationskraft da ist. Weil eingefahrene Muster nicht mehr funktionieren und man sich etwas Neues einfallen lassen muss“, sagt der Wirtschaftshistoriker Wolfgang Meixner von der Uni Innsbruck. Wobei er davor warnt, zu verallgemeinern: „Es ist ein großer Unterschied, ob die Krankheit im Mittelalter grassiert oder in der Neuzeit, in Europa oder in Afrika, weil man sich wirtschaftlich und gesellschaftlich in einem ganz anderen System befindet.“ Monokausale Erklärungen funktionieren nicht.
Für Maderthaner steht aber fest, „dass medizinischer und technischer Fortschritt stimuliert werden kann“. In Folge der Cholera wurden die Städte saniert, es war die Entdeckung der Hygiene (siehe unten).
Auch heute spekulieren Mediziner, dass die Masken in Post-Pandemie-Zeiten, wenn die Grippe umgeht, en vogue bleiben könnten. Maskengegner bitte weghören.
Der Sukkus aus der Geschichte für den Historiker: „Eine verstärkte kollektive Sensibilität für Erneuerungen und für das, was vorher nicht so gut lief“. Maderthaner muss es wissen,beschäftigt er sich sich doch gerade mit der Geschichte der Sozialrevolutionen und fragt sich, wovon sie ausgelöst werden. „Vor den Aufstand der Hussiten im frühen 15. Jahrhundert etwa grassierte eine große Pestepidemie und die Leute sagten: ,Das ist ein Zeichen Gottes, wir müssen alles ändern.`“
Abneigung gegen Ungleichheit
Wer jetzt meint, das sei lange her: Erst unlängst haben Forscher der London School of Economics festgestellt, dass die Menschen in ganz Europa aufgrund von Covid-19 eine größere Abneigung gegen Ungleichheit entwickelt haben. Eine aktuelle Studie des IWF untersucht die Auswirkungen von fünf Pandemien, darunter Ebola, Sars und Zika, in 133 Ländern seit 2001. Ergebnis: Sie führten zu einem signifikanten Anstieg der sozialen Unruhen. Eine weitere Untersuchung bescheinigt Ebola in den Jahren 2013 bis 2016 die zivile Gewalt in Westafrika um 40 Prozent erhöht zu haben. Soziale Unruhen scheinen ihren Höhepunkt zwei Jahre nach Ende der Pandemie zu erreichen.
Vieles werde von den Politikern abhängen. Wirtschaftshistoriker Meixner erinnert: „Eben wurde von ihnen noch das Nulldefizit propagiert, mittlerweile sind sie zu Verlegenheitskeynsianer mutiert. Wenn die neoliberalte Gruppe die Oberhand gewinnt und wieder beginnt zu sparen, wird es eine andere wirtschaftliche Entwicklung geben, als wenn die sich durchsetzen, die in Verbindung mit dem Klimawandel versuchen, intelligent zu investieren.“
Apropos Klimawandel
Unterdessen freuen sich viele zumindest heuer auf einen heißen Sommer. Ohne Masken, aber mit Impfung: Laut einer aktuellen Tinder-Umfrage ist sie für mehr als die Hälfte der jungen Singles Grundvoraussetzung für ein Date. Dann aber kann der "Hot Vax Summer" beginnen.
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