Neun Minuten und 24 Sekunden dauert die Sex-Szene zwischen Marianne und Connell in der zweiten Folge von „Normal People“, der Serienadaption des gleichnamigen Romans – fast ein Drittel der gesamten Episode. Doch nicht nur ihre Länge macht die intime Szene so besonders, sondern die Art, wie das „erste Mal“ der beiden dargestellt wird: einfühlsam, ungeschönt, echt, unbeholfen (etwa, als Connell beim BH-Öffnen versagt) – und stets auf Konsens bedacht.
Die zwölfteilige BBC-Serie nach dem Weltbestseller der irischen Autorin Sally Rooney (29) erschien am Höhepunkt des Lockdowns, seit dieser Woche ist das Buch auch auf Deutsch erhältlich („Normale Menschen“, Luchterhand Verlag). In den sozialen Medien überschlagen sich die Leser und Zuseher mit euphorischen Kommentaren zu den authentischen Bett-Szenen (und davon gibt es in Buch und Serie reichlich): Nicht nur seien beide Partner völlig gleichberechtigt, auch das Überziehen eines Kondoms, das im erotischen Kontext entweder ausgespart oder humorisiert wird, werde hier als das gezeigt, was es ist – etwas völlig Normales.
Die Autorin
Sally Rooney, geboren 1991 in Irland, wuchs in einem marxistisch geprägten Elternhaus auf. Während ihres Literatur-Studiums am Trinity College vollendete sie ihren Roman „Conversations with Friends“, der in mehr als zehn Sprachen übersetzt wurde
Das Buch
„Normal People“ erschien 2018 und war so erfolgreich, dass die BBC eine Serie daraus machte. Zu sehen auf Hulu und im Amazon-Prime-Kanal Starzplay
#MeToo
Wie konnte das Normale so außergewöhnlich werden? „Normal People“ steht, was die Sex-Szenen anbelangt, im krassen Gegensatz zum Sadomaso-Märchen „Shades of Grey“ und dem umstrittenen Erotikdrama „365 Tage“, dem Sexismus und die Verherrlichung sexueller Gewalt vorgeworfen werden.
Im Zeitalter nach #MeToo haben sich die Normen verschoben, Regisseure müssen nun besonders sensibel agieren – vor allem dann, wenn es um nackte Haut geht. So wurde für den Dreh von „Normal People“ eine eigene „Intimitätskoordinatorin“ engagiert, die penibel darauf achtete, dass sich die jungen Hauptdarsteller bei den pikanten Szenen wohlfühlen.
Die 29-jährige Rooney, bereits jetzt als Stimme ihrer Generation und erste große Millennial-Autorin gefeiert, fängt diesen Zeitgeist der Post-#MeToo-Ära und die Wünsche junger Erwachsener treffend ein. „Viele haben Angst, den sexuellen Anforderungen nicht zu entsprechen. ,Normal People‘ stellt diesen Anforderungskatalog nicht“, sagt die Sexualtherapeutin Bettina Brückelmayer. „Ich denke, dass diese Tatsache die Serie unter anderem so erfolgreich macht.“
Sämtliche Studien dokumentieren, dass der Pornokonsum bei Jugendlichen (vor allem Männern) steigt, sie aber immer später und weniger Sex haben.
Brückelmayer kennt die Folgen aus ihrer Praxis. „Die Gefahr ist, dass man eine Sucht entwickelt, dass starke Reize vorhanden sein müssen und man ,normalen Sex‘ nicht mehr genießen kann. Es muss nicht immer die ,High Dopamine Dose‘ durch extreme sadomasochistische Reize wie in ,50 Shades of Grey‘ sein, im Gegenteil: Sie birgt oft eine große Gefahr.“
Die Angst, im Bett nicht zu entsprechen, führe bei vielen ihrer jungen Klienten zu sexuellen Funktionsstörungen.
Slow Sex
Die Sexualität zwischen Marianne und Connell hingegen ist von Langsamkeit geprägt, von peinlichen Momenten, Imperfektion, echter Leidenschaft. „Slow Sex lässt eine tiefe Verbindung entstehen, wo man im Moment ist, keinen Vorgaben entsprechen muss. Ich glaube, dass genau das die Sehnsucht vieler junger Menschen ist“, sagt die Therapeutin.
Auch das Bild der sexuell aufreizenden Femme fatale hat ausgedient: „Es bedarf keiner High Heels, roter Lippen oder sexy Kleidung. Diese sekundären visuellen Komponenten sind nicht maßgeblich für das Entstehen erotischer Gefühle.“
Die große Lovestory darf man sich von „Normal People“ nicht erwarten: Jahrelang führen Marianne und Connell eine On-Off-Beziehung, vieles ist unsicher, alles kompliziert. Eben eine ganz normale Geschichte ihrer Generation.
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