10.000 Schritte sollst du gehen, lautet das gängige Bewegungsmantra, weshalb ambitionierte Schrittmacher ihre Tracker checken, um zu schauen, wie viele Geh-Punkte sie gehamstert haben: „Ziel erreicht.“ Und falls nicht? Auch kein Problem. Denn wissenschaftlich betrachtet fehlt es an harten Daten für das 10.000-Schritte-Mantra. So wurde etwa in einer Studie der Harvard Medical School untersucht, wie viel Frauen über 62 tatsächlich gehen müssen, um länger zu leben. Es zeigte, dass bereits 2.000 Schritte für Menschen, die sich sonst nicht viel bewegen, lebensverlängernd wirken können. Aktivere hingegen profitieren von 7.500 Schritten pro Tag. Die WHO empfiehlt 150 Minuten „moderate Bewegung“ pro Woche, mit Verweis auf das Gehen.
Spazieren soll vor Depressionen schützen, glücklich und kreativ machen, beleben und – vorausgesetzt, man spaziert gemeinsam mit anderen – verbindend wirken. Der Geh-Rhythmus zweier Menschen synchronisiert sich. Außerdem lässt sich jeder Spaziergang in ein Work-out verwandeln, indem ein paar intensive Passagen im Sinne eines Intervalltrainings eingebaut werden. Dafür legen Spaziergänger immer wieder an Tempo zu, mit dem Ziel, die Herzfrequenz zu erhöhen.
Der Spaziergang ist also besser als sein (langweiliger) Ruf. „Spazieren gehen ist kein Zeichen von Langeweile. Im Gegenteil. Es ist genau das Richtige für uns, die wir wissen, was wir mit unserer Zeit anfangen wollen. Es ist die Entdeckung dieser Welt“, begeistert sich Autor Titus Müller im Buch „Einfach mal spazieren gehen“. Wer mit offenen Augen schlendert, nimmt Dinge wahr, die er sonst übersehen hätte: einen besonderen Baum, eine spezielle Fassade, den Duft von Frühling, und vielleicht sich selbst. Der Spaziergang wurde in der Großstadt erfunden. Das Wort Flaneur fiel Charles Baudelaire im Paris des 19. Jahrhunderts ein, wo die Menschen auf überdachten Einkaufsstraßen auch bei miesem Wetter herumschlendern konnten. Flanerie bedeutete, sich schauend und ziellos treiben zu lassen. Noch heute eine zeitlos schöne Antwort auf die Zeitnot und volle Terminkalender. Kein Wunder also, dass das Spazieren stets mit dem denkenden Menschen und Kreativität verknüpft wurde. Der Neurowissenschafter Shane O’Mara, Autor von "Das Glück des Gehens", betont, dass das Gehirn Bewegung braucht, um Probleme zu lösen. Schon im Stehen ist der Mensch mental aktiver als im Sitzen, seine Sinne sind schärfer.
Gehen als Inspiration: Ludwig van Beethoven soll seine Pastoralen vor allem beim Spazieren komponiert haben (Stift und Papier waren stets dabei). Ebenso Gustav Mahler, der oft drei, vier Stunden täglich spazierte und dabei „dirigierte“. Der dänische Philosoph Søren Kierkegaard flanierte durch Kopenhagen und schrieb dabei Ideen nieder. Als einer der berühmtesten Spaziergänger gilt der Schriftsteller Henry David Thoreau. Er verstand den Spaziergang als Kunst, für den der Mensch eine „Begabung zum Schlendern“ besitzen müsse. Ebenfalls für seine Spaziergänge berühmt wurde Sigmund Freud, der täglich nach dem Mittagessen flott ging, abends meist mit Frau und Kindern. Drei Spaziergänge an einem Tag, einer davon frühmorgens, machte der britische Naturforscher Charles Darwin, samt Gehstock oder Foxterrier Polly.
Schlendern gegen Grübeln
Ein simpler Spaziergang scheint auf den ersten Blick als etwas Unspektakuläres – also nichts, auf das der Mensch groß stolz sein und womit er sportliche Wow-Effekte erzielen kann. Er ist weder Leistung noch Abenteuer und alles andere als ein Grenzgang. Aber vielleicht liegt darin seine besondere Qualität. Ein Spaziergang erlöst uns vom Grübeln, er führt uns, Schritt für Schritt, vom Alltag weg, zu uns hin und schärft im besten Fall die Wahrnehmung für das, was ist.
Manchmal dient es uns als Weg-Weiser, weil eine innere Ruhe entsteht, während wir zugleich körperlich in Bewegung bleiben. Probleme gehen auf Distanz, Gedanken ordnen sich neu, Perspektiven entstehen. Wir kommen weiter. So betrachtet, hat die – durch die Pandemie geradezu erzwungene – Wiederentdeckung des Spaziergangs auch ganz schön viel Gutes.
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