Folke Tegetthoff ist der erfolgreichste Märchenerzähler der Gegenwart. Was macht für den Erzählexperten die Faszination der Weihnachtsgeschichte aus? Und wie wichtig sind Märchen für uns?
Es war einmal in einer Krippe in Bethlehem: Die Weihnachtsgeschichte um die Geburt Jesus Christus’ besitzt solche Strahlkraft, dass sie auch nach Tausenden von Jahren fasziniert. Folke Tegetthoff wiederum ist der erfolgreichste Märchendichter unserer Zeit. In seinen Werken vereint er Elemente der fantastischen Literatur mit zeitgenössischer Sprache und Symbolik. Ein großer Erzähler (besonders erfolgreich: seine Liebesmärchen), auch auf der Bühne. Und weltweit, wie Auftritte von China bis Russland beweisen. In seinem Haus, einem früheren Kloster in der Südsteiermark, sprach der Atheist und Erzählexperte mit der per Video über die Anziehungskraft der größten Geschichte aller Zeiten.
freizeit: Herr Tegetthoff, wie kommt es, dass die Weihnachtsgeschichte nach so langer Zeit immer noch so faszinierend auf uns wirkt?
Folke Tegetthoff: Die Weihnachtsgeschichte hat eine sehr klare, einfache Botschaft. Sie berührt einfach alle Menschen, selbst jene, die nicht christlichen Glaubens sind. Man erkennt das daran, dass Weihnachten selbst in Indien immer beliebter wird. Die indische Mythologie mit ihren Tausenden von Gottheiten ist sehr kompliziert, da fällt es schwer, den Durchblick zu behalten. Die Weihnachtsgeschichte hingegen ist klar strukturiert, die Message ist einfach und sie arbeitet mit einprägsamen Bildern.
Es ist bemerkenswert, über welch großen Zeitraum die Geschichte präsent ist. Liegt das also hauptsächlich am erzählerischen Fundament?
Die Weihnachtsgeschichte wurde 1.400 Jahre lang mündlich weitergegeben. Es ist erwiesen, dass wir eine Geschichte intensiver aufnehmen, wenn wir sie erzählt bekommen. Die erwähnten Bilder lassen sich im Kopf ideal abspeichern. Sie haben sich tief in uns eingeprägt. Jeder kann die Weihnachtsgeschichte verstehen. Man muss weder gebildet sein noch die 5.000 Seiten des Neuen Testaments kennen. Sie vollbringt, dass sich uns ein Universum erschließt, etwas, das auch jeder Dichter und Märchenerzähler versucht. Dazu kommt der Erinnerungsfaktor: Sobald wir eine Kirche oder ein christliches Symbol sehen, ruft unser Gehirn diese Geschichte ab. Darum ist sie so präsent.
Welchen persönlichen Blick haben Sie als Märchendichter auf die Weihnachtsgeschichte?
Die Weihnachtsgeschichte ist das beste, größte, fantastischste Märchen, das jemals erzählt worden ist. Es löst in der katholischen Kirche meistens ein Aufstöhnen aus, wenn ich den Begriff Märchen im Zusammenhang mit der christlichen Geschichte gebrauche – von Leuten, die ein Märchen mit Lüge gleichsetzen. Das tue ich natürlich nicht. Märchen sind für mich eine Form von Wahrheit, die in erträgliche Gewänder gekleidet wurde. Eine Sehnsucht nach der Wirklichkeit, keine Flucht aus der Wirklichkeit. Aus diesem Grund ist die Weihnachtsgeschichte für mich ein Märchen – und eines der wesentlichsten Merkmale von beiden ist die Hoffnung.
Ende gut, alles gut: Ist das der Grund, warum der Hoffnung eine so zentrale Rolle zukommt?
Ein Märchen versucht immer eine Lösung anzubieten. Die bestmögliche besteht im Happy End. Es verkörpert die Hoffnung darauf, dass alles sich zum Guten wendet. Grundsätzlich geht es immer um den Dreiklang aus Sehnsucht, Hoffnung und Erfüllung. Ob die Scheune, die als Symbol für das Einfache steht, dem wir entkommen möchten, oder das Neugeborene, vor dessen Krippe die mächtigen Könige voller Demut stehen und es als den Heiland anerkennen: Märchen zielen auf unsere tiefsten Sehnsüchte und Bedürfnisse ab, die uns alle innewohnen, gleich ob jung oder alt, reich oder arm. Die Weihnachtsgeschichte spiegelt sie wider. Keine andere Kultur, ob die Inder oder die Griechen, haben es geschafft, die Sache so präzise auf den Punkt zu bringen. Mit eigenen Worten nacherzählt dauert sie bloß dreieinhalb Minuten.
Warum sind Märchen wichtig für Kinder und Erwachsene?
Das Märchen ist die einzige Literaturform, die der Fantasie eine große Spielwiese lässt. Daten und Orte werden nie genau definiert, Menschen nicht exakt beschrieben. Es bietet dem Hörer und Leser die Möglichkeit, seine eigene Fantasie einzubringen. Es lebt von der Auflösung von Zeit und Raum, das macht seine große Faszination aus. In „Harry Potter“ und dem Genre der fantastischen Geschichte wird hingegen bis ins kleinste Detail beschrieben. Hier können wir nur an der Fantasie des Autors teilhaben. Auch das fasziniert die Menschen. Aber es ist ein fertiges Bild. Beim Märchen bekommen wir Leinwand, Pinsel und Farbe und malen das Bild selbst mit. Wenn ich zehn verschiedenen Menschen ein Märchen erzähle, gibt es danach zehn verschiedene Interpretationen. Dabei schwingt immer ein Teil von uns mit.
In den 1970er-Jahren wurden Märchen aus pädagogischer und gesellschaftstheoretischer Perspektive heftig kritisiert. Sie würden Gewalt legitimieren und bei Kindern Ängste hervorrufen.
Märchen wurden mit Grausamkeit assoziiert und mit überkommenen, patriarchalischen Gesellschaftsformen. Das liegt daran, dass sie oft die Lebensformen rund ums 17. Jahrhundert widerspiegeln. Das beinhaltete eben auch eine Rechtsprechung, die sich dramatischer Strafen wie Hände abhacken oder Kopf abschlagen bediente. Der Punkt ist aber ein anderer: Märchen sind eine lebendige Literaturform, die über Jahrtausende mündlich weitergegeben wurden. Dabei wurden sie vom Erzähler der jeweils gültigen Gesellschaftsform angepasst. Durch ihre Niederschrift ist das verhindert worden. Die Geschichten hatten nicht mehr die Möglichkeit, sich weiterzuentwickeln.
Einem Kind lässt sich dieser Umstand allerdings schwer erklären.
Ein Kind empfindet Hänsel und Gretel nicht als grausam. Es weiß die Symbolik intuitiv richtig einzuschätzen. Ich sage immer: erzählen, keine Erklärungen abgeben. Wenn das Kind fragt, kann man erklären. Man führt es in diese Welt hinein und wieder hinaus. Sie ist akzeptabel für das Kind, weil wir sie ihm erzählen. Das Wichtigste ist, dass wir da sind und ihm Sicherheit und Schutz geben.
Sie haben mehr als eine Million Bücher verkauft. Wissen Sie genau, wie man Menschen zum Zuhören bringt?
(lacht) Nein. Ich bin ein intuitiver Schriftsteller. Keine einzige Geschichte wird von mir konstruiert. Aber ich weiß genau, welche beim Publikum funktionieren und habe mich oft gefragt, was ihr Geheimnis ist. Ich habe ungefähr 500 Märchen geschrieben. Davon erzähle ich auf der Bühne – wenn ich auch als Erzähler auftrete – an die 100. Das sind jene, von denen ich weiß, dass sie hundertprozentig funktionieren. Meine bekannteste Geschichte etwa ist eines meiner „Liebesmärchen“, es heißt „Der Olivenbaum“: Eine Raupe verliebt sich darin in besagten Baum. Es fasziniert mich, dass Menschen einer völlig anderen Kultur und sogar auf anderen Kontinenten auf diese Geschichte anspringen und sie verstehen.
Wie wichtig finden Sie es, Fantasie zu entwickeln und sich zu bewahren?
Ich glaube fest daran, dass jeder Mensch mit der gleichen Portion Fantasie auf die Welt kommt. Leider erziehen wir, der Kindergarten und die Schule unseren Kindern wieder viel davon ab. Dabei ist es eine einzigartige Kraft, eine der wichtigsten, die wir überhaupt besitzen. Kein Beruf kommt ohne Fantasie aus. Ohne Maurer, die mit Fantasie arbeiten, gäbe es keine Kathedralen. Ein Koch benützt seine Fantasie in dem Moment, in dem er beim Kartoffelkochen Salz hinzufügt. Wer erfolgreich sein will, überwindet Schranken und wirft einen Blick in eine andere Dimension.
Wie wecken wir die Fähigkeit zur Fantasie bei Kindern?
Die Fantasie ist ein lebendiger Organismus, den wir bewusst schulen können. Gehe ich mit meinen Enkeln im Wald spazieren und wir hören ein Knacken im Unterholz, rührt das vermutlich daher, dass ich auf einen Zweig getreten bin oder ein Tier ist schuld daran. Ich stelle hingegen die Vermutung in den Raum, eine Fee hätte das Geräusch verursacht – und schon gerät die Fantasie in Gang. Feen mögen zwar nicht existieren. Wenn meine Fantasie sie erschafft, sind sie aber dennoch real. Es ist wichtig, eines zu begreifen: Nicht nur was ich sehen, hören, riechen, schmecken und mit meinen Sinnen begreifen kann, ist wahrhaftig. Sondern auch alles, das ich erschaffen kann. Es ist eine andere Dimension der Wahrheit, aber sie ist dennoch wahr. Sonst könnte auch die Weihnachtsgeschichte nicht funktionieren.
Wie nahe kommt Ihr Leben einem Märchen?
Ich lebe mein Märchen. Ich nehme jeden Schritt meines Lebens nicht einfach nur hin, sondern ganz bewusst wahr. Als ich etwa meine Frau kennengelernt habe, habe ich diesen Augenblick in seiner ganzen Dimension erfasst. Meine Fantasie ist sehr stark und ich lasse diese Kräfte zu. Ich akzeptiere, was meine Vorstellungskraft mir als einen Teil meiner Wirklichkeit präsentiert. Und das bereichert meinen Alltag unglaublich.
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