Kinder in der Pandemie: "5. Geburtstag oder Maturaball gibt es nur einmal"
Für Kinder und Jugendliche ist die Pandemie eine große Herausforderung, für jene, die aufgrund familiärer Probleme in Fremdunterbringung sind, gestaltet sich die Krise noch viel schwieriger. Mit ihren Bezugspersonen konnte zunächst nur noch online Kontakt gehalten werden, in den Einrichtungen herrschte Angst vor einer möglichen Quarantäne. "Diese Zeit können sie nie mehr aufholen", resümierte die Wiener Kinder- und Jugendanwältin Dunja Gharwal im APA-Gespräch.
In Wien ist etwa ein Prozent der Kinder in Wohngemeinschaften, Krisenzentren bzw. bei Pflegeeltern oder in der Verwandtenpflege untergebracht. Als die Corona-Pandemie begann, fielen mit dem Lockdown plötzlich die meisten Kontaktpersonen für die Betroffenen weg.
"Die Kinder sind keine homogene Gruppe. Sie kommen in Krisenzentren und anschließend in Wohngemeinschaften mit einem Rucksack an negativen, traumatischen Erfahrungen und Beziehungsabbrüchen", sagte Gharwal. Rund 2.100 bis 2.200 Betroffene leben in WGs - das sind dann acht Kinder und vier Betreuerinnen bzw. Betreuer - und 1.600 bis 1.700 bei Pflegefamilien. Manche haben die Situation gut verkraftet, andere wiederum nicht.
Persönliche Besuchskontakte fehlten
Die Lage musste den individuellen Bedürfnissen der Kinder angepasst werden. Besuchskontakte zu den Herkunftsfamilien wurden zunächst vorrangig digital ermöglicht. Persönliche Kontakte mussten von Mal zu Mal separat vereinbart werden. In der wärmeren Jahreszeit konnte dann auch ein Wiedersehen im Freien stattfinden. Das bedeutete auch eine Entlastung für WG-Betreuer und Kids, erklärte die Kinder- und Jugendanwältin. Mit den Familien wurde über die Bedeutung der Maßnahmen immer wieder gesprochen, um ein Risiko einer Ansteckung bei Rückkehr in die WG gering zu halten.
Auch wenn die Pädagoginnen und Pädagogen bemüht waren, kindergerecht zu arbeiten und in den Lockdowns mit Kreativität und Engagement die Kinder zu unterstützen, auch beim Homeschooling, der fehlende Kontakt zur Peer Group konnte nicht kompensiert werden. Allerdings bemerkten die Betreuerinnen und Betreuer ein Zusammenwachsen der Gruppe innerhalb jener Wohngemeinschaften, in denen es zu keinen personellen Ausfällen kam. Aber dennoch, die fehlende Interaktion konnten die Kinder und Jugendlichen nicht wieder aufholen.
"Einschränkung wirkt wie kollektives Trauma"
"Kein Spiel, keine Pausen zwischen den Unterrichtseinheiten, kein Herumalbern mit Freundinnen und Freunden, kein Flirten oder Tanzen, kein Streiten oder Lieben, keine neuen Beziehungen, Freundschaften. Das Einschränken des Lebens von Kindern wirkt wie ein kollektives Trauma auf unsere Gesellschaft", warnte Gharwal. "Wir wissen, dass Kinder, die Grundbedürfnisse zu lange unterdrücken müssen, diese nicht einfach wieder aus dem Hut zaubern können. Die Auswirkungen dieser ungestillten Bedürfnisse werden uns noch Jahre beschäftigen."
Als Beispiel nannte die Expertin die Eltern-Kind-Gruppen, wo sich junge Eltern mit ihren Kleinkindern treffen und reden können. "Üblicherweise krabbeln die Babys und Kleinkinder in diesen Gruppen aufeinander zu und interagieren. Nach dem ersten Lockdown und dem ersten Schock wurde vielerorts im Sommer dieses Angebot den jungen Familien wieder geöffnet. Die Kolleginnen und Kollegen konnten beobachten, dass die jüngsten Kinder nicht mehr in Interaktionen miteinander traten. Die Kleinkinder orientierten sich ausschließlich an den Eltern", warnte Gharwal. "Genau solche Entwicklungen müssen uns Sorgen machen. Denn Kinder brauchen Kinder."
Sorge um die Kleinsten: "Wir Erwachsene hatte das alles"
Kindergartenkinder, die ein Jahr nicht mehr den Kindergarten besuchen konnten, äußerten ihre Verzweiflung, dass sie nie mehr ihre Freundinnen sehen werden, berichtete die Kinder- und Jugendanwältin. "Ein Jahr Lebenszeit für ein vierjähriges Kind bedeutet, sich an 50 Prozent seiner eigenen Lebenszeit erinnern zu können - also die letzten zwei Jahre maximal. Umgerechnet auf das Erinnerungsvermögen einer 50-jährigen Person, könnten wir sagen, dass die letzten 25 Jahre einfach nicht stattgefunden haben. Das ist die Realität der Kinder und Jugendlichen in der Pandemie", sagte die Expertin.
Sie mahnte: "Ihr Leben beginnt gerade erst. Wir Erwachsenen sind dafür verantwortlich, sie möglichst unbeschadet durch diese Krise zu begleiten und als Gesellschaft alles daran zu setzen, dass sie ihre Kindheit und Jugend erleben und gestalten können. Wir sind dafür verantwortlich, dass sie die Kindergärten und Schulen besuchen können, Sport machen, Kunst und Kultur erleben und entwickeln dürfen. Wir sind dafür verantwortlich, dass jedes Kind medizinische und therapeutische Angebote nach Bedarf erhält. Denn es ist relativ einfach, als Erwachsener zu sagen, die Situation wäre nur vorübergehend. Die vielen versäumten Lebensereignisse sind für die Kinder und Jugendlichen nie mehr aufholbar. Den Maturaball gibt es nur einmal. Den 5. Geburtstag auch. Den ersten Schultag, den ersten sportlichen Erfolg. Wir Erwachsenen hatten das alles."
Zu wenig Verständnis für Kinderbedürfnisse
Gharwal kritisierte, dass es in Österreich wenig Verständnis für Kinderbedürfnisse gebe. So habe es erst im Mai vonseiten des Gesundheitsministeriums eine Pressekonferenz für Kinder gegeben, wo den Jüngsten alles rund um das Coronavirus erklärt wurde. "Und das war einmalig", sagte Gharwal. "Man vergisst, dass ein Fünftel der Bevölkerung Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene sind, die aber mehrheitlich keine demokratische Stimme haben." Hilfreich wäre, wenn die Kinder in den Dialog miteinbezogen werden, dass sie immer die Adressaten der politischen Kommunikation in einer Krise seien. Viel politische Kommunikation dreht sich um die Schule. "Aber das ist nur ein kleiner Bereich der Lebenswelt von Kindern, den Großteil ihrer Lebenswelten finden wir innerhalb der Familie, bei Freunden, Verwandten bzw. im Freizeitbereich mit Gleichgesinnten beispielsweise im Sport", so Gharwal. "Kinder und ihre Bedürfnisse auf Schule und Lernerfolg zu reduzieren, wird ihnen nicht gerecht."
Ein erfreulicher Aspekt der Pandemie war jedoch, dass es einige Familien geschafft haben, ihre Kinder nach einer Rückführung aus der Wohngemeinschaft gut in die Familie und die eigenen Strukturen einzubeziehen. "Das waren Familien mit großen Herausforderungen und schwierigen Lebenserfahrungen", sagte Gharwal. Doch diesen Menschen gelang es, sich wieder voll um ihre Kinder zu kümmern. "Sie haben oft den Glauben an sich selbst verloren, etwas richtig zu machen, und die Krise hat sich als Chance für diese besonders starken und gleichzeitig verletzlichen Familien herausgestellt", sagte die Expertin. Das sei auch ein Lernprozess für mögliche neue Konzepte und Herangehensweisen in der Begleitung von Familien, noch mehr die Stärken der Kinder und Familien kennenzulernen und zu unterstützen.
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