„Schaukeln der Dinge im Strom der Zeit“

„Schaukeln der Dinge im Strom der Zeit“
„Eine poetische Reflexion über das Verschwinden von Erinnerung“ – für die Wiener Philharmoniker derzeit im Konzerthaus. Die Bearbeitung von Viginia Woolfs Roman „Orlando“ – von der Wiener Staatsoper bestellt. Zeit, sich mit Komponist Olga Neuwirth zu befassen. Gesichert ist: Mit Tom „Conchita“ Neuwirth ist sie nicht verwandt.
Von Ro Raftl

Kreuzbergs Klang. Rauscht, braust, hupt als ferner Fließverkehr, klirrt als Weinkistenlieferant, tackert als Plateauabsatz, scheppert als betagtes Kinderwagerl übers Kopfsteinpflaster vor dem Café-Restaurant Tante Jolesch. Vieltöniger Hintergrund auf dem Sprachmemo. Stimmig zu Olga Neuwirths neuester Idee, die reine Akustik der stillgelegten Kirche San Lorenzo in Venedig aufzunehmen und zu konservieren. In diese „Raumkulisse“ komponiert sie nun ihre eigene Musik hinein, gibt Rauschen der Lagune, im Dezember gespeichert, und andere venezianische Außenklänge dazu. Schließlich ist sie eine der bekanntesten Komponisten der jüngeren Generation „fernab jeder Einbahnstraße“, wie ihr Kritiker attestierten.


Also. Webt sie an Le Encantadas o le avventure nel mare delle meraviglie, einer Art Oper, 70 Minuten lang, um einmal mehr das Entzücken über die Wunderwelten auszudrücken, die ihr Herman Melville eröffnet hat. Olga Neuwirth schweigt beredt. Und kann mit den Augen lachen. Zerbrechlich und zäh. Vernarrt in den Trash, die „raue Verspieltheit“ der Achtzigerjahre. Singt auf die Frage, welche Melodie sie mag: „I'm ... just a simple man“ in den sonnigen Kreuzberger Schanigarten. Klaus Nomi! Natürlich, der Exzentriker. Kalkweiß geschminkt, in kubistischen Gewändern. Bizarr stilisierte, melancholisch ironische Bühnenshows. Früh an Aids gestorben. Klaus Nomi musste ein kluges, rasch denkendes, mathematisch, literarisch, musikalisch talentiertes steirisches Mädel, das Trompeterin werden wollte, interessieren. 1998 hat ihm Neuwirth die erste Hommage gewidmet, die sich sukzessive von vier auf neun Arrangements für Countertenor und Ensemble erhöht hat. Sie werden in aller Welt gespielt.
Sie war immer verspielt genug, um als 22-Jährige „viele kaputte Kinderspielzeuginstrumente“ in die zwei Miniopern mit Elfriede Jelinek einzubauen. Damit ist sie international bekannt geworden. Bloß. Fällt ihr viel schneller ein, was sie nicht an sich mag, als was sie mag. „Ich bin zu ungeduldig.“ Ach, das sagt jeder. „Nein, auch ungeduldig mit anderen. Ungeduld dem anderen gegenüber, weil man sich selbst gegenüber sehr kritisch ist und Hohes einfordert. Umgekehrt, kann ich gut zuhören. Kommt wohl von der Musik. Wildfremde Leute erzählen mir die erstaunlichsten Geschichten, mehr, als ich wissen will. Kellner, Taxifahrer. Also muss ich auch was Vertrauenserweckendes haben.“Garantiert für die Passagiere auf der Queen Mary, mit der sie letztens aus New York nach Europa geschippert ist wegen ihrer Flugangst. Allerdings auf dem Atlantik in einen Aprilsturm geriet, „einen ganz argen mit 14 Meter hohen Wellen. Natürlich auch herrlich, das graublau wilde Peitschen, wie bei Herman Melville. Seekrank wird sie nicht.

Ihre Homepage, olganeuwirth.com, liest sich anders. „American Lulu“, ihr weiblicher Blick auf Alban Bergs mystische Frauenfigur der 1930er-Jahre, ihr Redesign im Jazzermilieu von New Orleans, sinnlich-stolze neue Neuwirth-Klänge triumphierten an der Komischen Oper Berlin, später auch im Theater an der Wien. Und. Dominique Meyer lud sie ein, „Orlando“, Virginia Woolfs Geschlechterreise durch ein paar Jahrhunderte, die Verwandlung eines jungen britischen Adeligen in eine Frau, für die Staatsoper zu bearbeiten. Das Libretto auf Englisch, zusammen mit der frankoamerikanischen Autorin Catherine Filloux. Hl. Conchita bitte für uns! Neuwirth (Nebenbemerkung: Und nicht Tom „Conchita“ Neuwirth ... wurde in NY letztes Jahr, als Conchita gewann, oft gefragt, ob sie mit ihm verwandt sei ...) versprach: „Wir werden nicht aufhören, wo Virginia Woolf aufhört.“ Der Schock, mit Nobelpreisträgerin Jelinek und Neil Shicoff in der Hauptrolle „entsorgt worden zu sein“, dass die für die Staatsoper und die Salzburger Festspiele 2003 bestellte Oper ohne Grund wieder abbestellt wurde, macht die Komponistin noch heute fassungslos. Gut, wir sagen nicht, dass das Sujet – Kindesmissbrauch und Blutschande nach den Prozessunterlagen des Kärntner Arztes Hans W. – möglicherweise dem Direktorium eines Festivals zu heavy erschienen sein könnte, das noch Jahre später Jean Ziegler als Redner wieder auslud.

Feige Vorsicht hat Neuwirth noch nie gestoppt: „Ich möchte bewusst denkende Menschen, Selberdenker, als Zuhörer haben, die in der Musik und in der Kunst überhaupt die Widerspiegelung des suchenden Menschen sehen ...“, sagte die Schüchterne, die sich bei Premieren so wahnsinnig ungern verbeugt, im Jahr 2000 bei der Großdemo gegen Schwarz-Blau vor der Oper öffentlich: „Ich will mich nicht wegjodeln lassen, auch wenn auf der Gerlitzen keine ,Weltkatzen-Musik’ erwünscht ist!“ (Weltkatzen war ein Haider-Bonmot).

Die vollständige Rede liest man auf ihrer Homepage. Wie substanzielle Gedanken zur neuen Musik. Dass Bählamms Fest ihr erstes abendfüllendes Musiktheater nach einem Libretto der Nobelpreisträgerin war, 1999 bei den Wiener Festwochen uraufgeführt. Wie dankbar sie dem heute 90-jährigen Pierre Boulez ist, dass dieser humorvolle Mann sie beim Verbeugen leise an der Hand genommen hat. Ja, Staatspreis, Einladung zur documenta 12, alles da. Dass ihr der Pustet Verlag zum 40. Geburtstag ein Interview-Buch gewidmet hat: „Zwischen den Stühlen“.
Und man staunt, wie glasklar und poetisch sie schreibt. Über Haydn und Vom Schaukeln der Dinge im Strom der Zeit, zu Masaot/Clocks without hands, ein Auftragswerk der Wiener Philharmoniker, das am 9. und 10. Mai mit Daniel Harding im Konzerthaus aufgeführt wird. „Mein Großvater, den ich nie kennengelernt hatte und nur durch Fotos und Erzählungen meiner Großmutter kenne, erschien mir im Traum.“ Sie erzählt: „Er war Arzt. In Schwanberg, in der Südweststeiermark an der Grenze zu Slowenien, wo ich aufgewachsen bin. Starb mit 60 an einem Herzinfarkt. Als er wusste, wie’s um ihn steht, sagte er mit den Worten des berühmten Kollegen Semmelweis: Der Tod geht ums Haus! Das Haus ist heute verkauft, der mediterrane Garten vom neuen Besitzer abgeholzt.
Das Dilemma: „Kein Schutzort mehr.“ Denn: Auch die Wiener Wohnung hinterm Parlament ist weg. Nach zehn Jahren hat der Vermieter den befristeten Vertrag nicht verlängert – was er rechtlich darf, da er sonst in einen Hauptmietvertrag übergehen müsste. Sein Argument: „Ich möchte keine freischaffenden Künstler in meinem Haus.“ Draußen war sie, den Staatspreis, den sie gerade bekommen hatte, hin oder her. „Seither liegt mein ganzes Leben und meine Arbeit in einem Depot.“ Neuwirth hat sich darauf ein heruntergekommenes altes Bierlager mit Eisturm am Ufer des Kamp gekauft, um es als ihren neuen Arbeitsort zum Leben zu erwecken. Dort gestaltet sich der Umbau wegen Behördensturheit seit 15 Monaten schwierig.


„Vaziere unfreiwillig, je nach den Projekten, zwischen New York, Venedig, Paris, Berlin. Eine Wanderer-Fantasie.“ Ganz schön schwarz, ihr Humor der Verzweiflung. Tja, Le Encantadas, die im Oktober beim Musikfest in Paris, in Donau-eschingen und in Luzern aufgeführt werden, müssen in zwei Monaten fertig sein. Immenser Druck! Für 2016 erhielt sie die (renommierte) Roche-Commission für das Lucerne Festival, das bedeutet: ein Concerto für Schlagwerker Martin Grubinger. Danach gleich „Orlando“, das Auftragswerk für die Wiener Staatsoper. Das muss sie 2018 liefern. „Ich muss auf Knopfdruck kreativ sein unter diesen unerträglichen Bedingungen. Mich zwingen, dennoch zu funktionieren – ohne Arbeitsstätte. Übermenschlich. Disziplin bis zur Selbstzerstörung. Aber wo schreib ich Orlando?“ Sie malt düster: „Die Diskrepanz, zwischen meinem Namen und meiner Existenz. Wenn ich das Wort Deadline hör, krieg ich die Krise. Denn ich muss seit 25 Jahren auf Knopfdruck kreativ sein, weil ich davon leben muss.“ Und ihre Basis? „Ich bin ein richtiges Landkind. Allerdings. Mit einem Jazzmusiker als Vater und einer literarisch begeisterten Mutter. Da kamen so viele, auch afroamerikanische, Musiker zu uns, dass ich mit zwölf ein Theaterstück über Jazzer in Harlem geschrieben hab. Es wurde sogar im Schultheater aufgeführt.“

Ganz einfach war’s trotzdem nicht. „Mit Beinah-Hippie-Eltern, da wirst als Kind mitgetragen und dann irgendwo niedergelegt zum Schlafen. Aber damals – als in Graz, im Forum Stadtpark, der große Aufbruch stattgefunden hat, mit einer Energie an der Grenze der Selbstzerstörung, gab’s kein Halten. Lernst viele menschliche Abgründe kennen. Mit 13, 14 hab ich mich bereits so erwachsen gefühlt und geglaubt, ich muss meine Eltern und ihre Freunde ständig vor den Abgründen beschützen.
Olga, grad 15, versuchte sich in Hans Werner Henzes Workshops, lag mit ihm auf den Restaurationsgerüsten an der Decke der Sixtinischen Kapelle, besuchte ihn in London. Eines Abends, als er nicht so gut drauf war, hat er sie mit Geld zu einem Briefkasten fünf Häuser weiter geschickt: Ein Packerl rausnehmen, Geld reinlegen. Sie geht hin. Aber eine ältere Dame, schwarz in schwarz, bis oben vermummt, pfaucht sie an, was sie an ihrer Postbox will. Großes Theater, Olga kennt sich nicht aus. Bis Henzes Partner die nicht zurückkehrende Olga holt und die Wogen glättet. Die Lady war Ava Gardner. Henze hat sich mit Ava einen Briefkasten für unartige Genüsse geteilt. Neuwirth erklärt: „Weil ich so aufgewachsen bin, mit Literatur, Film, bildender Kunst, Architektur, habe nie eindimensional nur musikzentriert gedacht. Ohne Vorurteil.“


Einschub. Ein Autounfall, der Kieferbruch und keine Rede mehr von einer Karriere als Trompeterin. Es gab auch noch ein schweres Schädel-Hirntrauma in der Familie, als Neuwirth in der Pubertät war. Persönlichkeitsverändernd. „Hirnforschung war seither mein wichtigstes Thema. Bin nach San Francisco, um Malerei und Film zu studieren, um erst danach wieder an Musik zu denken.“ Mit 35 plötzlich das Gefühl: „Mein Hirn zerplatzt. Zu überfüllt, weil ich alles scanne, zu viel erinnere, was ich gehört und gesehen habe. Obsessiv! Ich möchte das Hirn ausschalten, doch es geht nicht.“ Das hat sie zu Oliver Sacks und zwei langen Sitzungen mit ihm geführt. Dem Neurologen, bei dem ungeklärt ist, ob er der bessere Arzt oder Autor ist. Den Titel des Bestsellers „Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte“ kennt jeder. Er schrieb auch über die Wirkung von Musik auf das Gehirn. Seitdem übt sie, lernt sie, mit Reizüberflutung umzugehen. Sich „in Ruh zu lassen. Wegzuschließen. Nicht immer verfügbar zu sein“. Seither schläft sie oft besser. „Bin ja mein eigener Beamter. Wenn es heißt: Du musst dich konzentrieren, kann ich mich konzentrieren.“ Selbst, wenn manches nicht wegzustecken ist. In San Francisco hat sie am selben Art Institute wie Michael Glawogger studiert. Später bat er sie um die Musik zu dem Film „Das Vaterspiel“.

„Bist du sicher, dass du diese Art von Musik magst? hab ich gefragt, Ja! Und dann hat er sich voll darauf eingelassen. Mich ernst genommen. Immer genau zugehört! Die Nachricht von seinem Tod hab ich in demselben Caféhaus an der Upper West Side in New York bekommen, in dem ich ihn das letzte Mal getroffen hatte, The Raven, in dem Edgar Allen Poe seinerzeit Der Rabe schrieb. Es existiert nicht mehr. Damals hat er müde ausgesehen, ich glaub, er hat zu wenig auf sich selber aufgepasst. Hab alle Reiseblogs von ihm gelesen, das gerade erschienene Buch 69 Hotelzimmer auch. Denn. Er hat sich – zumindest noch bei unserem letzten Treffen in NY, kann sich ja wieder geändert haben – von mir die Musik für den Weltreise-Film gewünscht, durchkomponiert wie in den Dreißigerjahren, ohne auf die Eigenarten der einzelnen Länder einzugehen: Großen Orchesterklang, über das Ganze gelegt wie in alten Zeiten: Ja, das will ich, sagt er, als ich ihn erstaunt angestarrt hab! Die Musik soll alles zusammenfassen.“ Für Glawogger hat Olga Neuwirth in memoriam ein Solostück für Viola geschrieben: „Weariness heals Wounds I“. (Müdigkeit heilt Wunden.) Antoine Tamestit wird es, nach der Premiere letzten November in Paris, am 4. Juni wieder in Tokio spielen.

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